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    Im Gespräch mit kontroverbal

    "Wir sollten Kunst und Künstler*innen nicht trennen!"

    Interview von Anne
    01.11.2023 — Lesezeit: 16 min
    Im Gespräch mit kontroverbal

    Heute möchte ich Euch kontroverbal vorstellen. Das sind N. und T. Beide leben in einer deutschen Großstadt und haben hauptberuflich viel mit Menschen zu tun. Dabei fallen den beiden immer wieder Dinge auf, die in ihren Augen keine Berechtigung haben: Dinge wie Ausgrenzung, Rassismus, Hass gegenüber queeren Menschen und Transpersonen und die in unserer Gesellschaft allgegenwärtige Misogynie. Ich wollte mich nun endlich nicht mehr darauf beschränken, gelegentlich mal ihre ziemlich großartigen Instagram-Storys und Posts zu teilen und habe die beiden zum Interview eingeladen.

    CW: Rassismus, Sexismus, Hass, Übergriffe und sexueller Missbrauch, Ramm****n, toxische Beziehungen, Love Bombing, Mobbing, Misogynie

    Anne: Moin! Schön, dass Ihr Euch die Zeit nehmt! Wie geht es Euch?

    N: Moin! Gut geht's und danke, dass Du Dir die Zeit für uns nimmst!

    Anne: Bei Euch auf dem kontoverbal1 Account ist ja ganz schön was los und Ihr tummelt Euch auch gerne in den Kommentarspalten diverser heiß diskutierten Posts. Gab es heute schon einen Aufreger?

    N: Ich würde gerne sagen "Nein, heute ausnahmsweise mal nicht", aber das wäre unrealistisch. Eigentlich gibt es jeden Tag einen Aufreger. Wir haben uns heute ziemlich über das Thema "Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz" aufgeregt. Da gab es tatsächlich von einigen – vorwiegend männlich gelesenen Menschen – die Auffassung, dass FLINTA* sich "nicht so anstellen sollten", wenn sie "einen oder zwei flirty Blicke" und einen Spruch hinterhergeworfen (Cat Calling) bekommen. Was uns aber am meisten schockiert hat, war die internalisierte Misogynie von einer weiblich gelesenen Person in der Kommentarspalte, die uns doch tatsächlich erzählen wollte, dass man doch eher ein Auge auf Gewalt von Frauen legen sollte als gegenüber Frauen – unglaublich! Daraus haben wir erst mal Memes gemacht.

    Anne: Ihr setzt Euch online gegen Ausgrenzung, Rassismus, Hass gegenüber queeren Menschen und Transpersonen und die alltägliche, allgegenwärtige, institutionalisierte Misogynie ein. Seid Ihr selbst davon betroffen oder geht es Euch insgesamt darum, mehr Awareness für diese Themen zu schaffen?

    T: Sowohl als auch. N. ist als Frau zum Beispiel von Sexismus und Misogynie direkt betroffen, mehr als ich das Mann höchstwahrscheinlich jemals erfahren werde. Uns ist es aber wichtig, Awareness für möglichst viele Themen zu schaffen. Unsere privilegierte Position ist uns bewusst und deswegen ist uns klar, dass wir unsere Stimme dafür nutzen müssen, um für marginalisierte Gruppen laut zu werden und solidarisch zu sein.

    "Haben wir wirklich aus der Vergangenheit gelernt?"

    Text im Bild: "kontroverbal – Alfred Jodocus Quack – die politische Kinderserie der 90er-Jahre." Auf orangem Hintergrund ist die Zeichentrickfigur Alfred Joducus Kwak die Ente zu sehen. Seine Federn sind weiß, sein Schnabel orange.
    Die Zeichentrickfigur Alfred Jodocus Kwak machte sich schon in den 1990er-Jahren gegen Ungerechtigkeit stark. Bild: kontroverbal

    Ich persönlich nehme viel aus Bereichen mit, in denen ich gearbeitet habe. Das waren Projekte für Geflüchtete oder in NS-Gedenkstätten; es heißt ja immer so schön: "Aus der Vergangenheit haben wir gelernt". aber aktuell wird's immer deutlicher, dass das bei vielen Menschen vielleicht nur so daher gesagt war. Sich zu positionieren, ist wichtiger denn je. Also richten wir den Blick auf aktuelle Geschehnisse und nutzen das für alle der genannten Themen auch als Ventil. Wenn uns was wütend macht, dann muss das irgendwo hin. Bei uns landet's dann in Texten und Illustrationen und wir überlegen auch schon, wie wir neue Formate gestalten können. Wir finden gerade unseren Aktivismus.

    Anne: In unserer vorwiegend weißen, mitteleuropäischen Gesellschaft wurden wir alle rassistisch sozialisiert – ob wir das wollen oder nicht. Es ist darum von großer Bedeutung, dass wir uns darüber klar werden und entsprechend handeln. Für mich bedeutet das: mit offenen Augen durchs Leben zu gehen und zuzuhören. Mein Verhalten entsprechend anzupassen, wenn ich Dinge bei mir beobachte, die so nicht gehen und es auch anzuerkennen, wenn ich Fehler mache. Zu reflektieren und mich weiterzubilden. Mich einzusetzen und andere darauf hinzuweisen, wenn sie mit ihrer Sprache oder ihrem Verhalten danebenliegen. Also zum Beispiel: Wörter verwenden, die ihren Ursprung in einem sehr finsteren Zeitalter unserer Geschichte haben oder ihre Privilegien als selbstverständlich ansehen. Wie verhaltet Ihr Euch, wenn Euch Rassismus im Alltag begegnet?

    N: Es ist so wichtig, dass Dir das bewusst ist und Du aktiv etwas gegen Diskriminierung von marginalisierten Personen tust. Und so, wie Du es machst, ist es genau richtig: Reden! Auf rassistische Kommentare hinweisen! Sich dagegen positionieren! Viel zu häufig wird darüber hinweggesehen, besonders, wenn man selbst nicht betroffen ist. Weil es unbequem und anstrengend ist, darüber zu diskutieren. Aber wie ist es denn für marginalisierte Menschen, die sich ständig damit auseinandersetzen müssen und keine Wahl haben? Aus Solidarität ist es für uns nur der einzig richtige Weg, unseren Mund aufzumachen.

    Außerdem ist es wichtig, sich weiterzubilden. Bücher zu lesen über Rassismus, aus der Sicht von betroffenen Personen. Accounts auf Social Media folgen, die sich mit dem Thema auseinandersetzen und Tipps geben. Und vor allem: Betroffene ernst nehmen, ihnen zuhören, auf ihre Bedürfnisse eingehen. Wir haben da eine große Verantwortung zu tragen.

    Anne: Würdet Ihr sagen, dass es online leichter ist, Menschen auf ihr Fehlverhalten anzusprechen?

    T: Ja. Online kann man anonym bleiben und man traut sich gegebenenfalls auch mehr. Im realen Leben hat man vielleicht mit Konsequenzen zu rechnen, teilweise auch aus dem eigenen Freundes- und Bekanntenkreis. Es erfordert Mut, seine Stimme zu nutzen und dabei ist es nicht immer von Vorteil, ein eher introvertierter Mensch zu sein. Das fällt uns sogar auch immer wieder in den Kommentarspalten auf. Wenn man nicht dazu neigt, laut zu sein und seine Ellbogen auszufahren, ist es schwierig, sich bei den eher rechten Menschen durchzusetzen. Denn die machen in den Kommentarspalten genau das: Laut sein, präsent sein, ihre widerlegbaren Aussagen als Wahrheit darstellen, sodass ein gänzlich falscher Eindruck zum Thema XY entsteht.

    Regelmäßig folgen auf widerlegende Argumente dann einfach Beleidigungen; wobei der Unterschied online sicherlich darin liegt, dass diese Personen bei einer Face-to-Face-Diskussion wahrscheinlich keine verbalen Angriffe starten würden. Auch hier benötigt man ein ziemliches Durchhaltevermögen, um dagegenzuhalten, beziehungsweise sich davon nicht unterkriegen zu lassen. Das ist aber genauso wichtig wie in der realen Welt, auf Social Media entstehen und verbreiten Meinungen sich grundsätzlich anders und nicht nur schneller.

    Anne: N., Du hast gerade eine Kampagne über das Thema Love Bombing in toxischen Beziehungen ausgearbeitet. Möchtest Du uns etwas darüber erzählen?

    "Das Patriarchat ist stark"

    Text im Bild: "Love Bombing – kontroverbal – Love Bombing hat ein Ablaufdatum. Was passiert, wenn das Love Bombing ein Ende findet? Kurz gesagt: Es findet ein drastischer Umschwung im Verhalten des Gegenübers statt, sobald das Ziel, eine Person abhängig zu machen, erreicht wurde. Plötzlich und ohne Vorwarnung wird Abstand genommen. Das neue Ziel lautet: Kontrolle ausüben durch den Entzug von Zuneigung und 'Liebe'. Und auch hier wird teilweise zu sehr unverhältnismäßigen Mitteln gegriffen, um der Zielperson das Gefühl zu geben, dass sie minderwertig, nicht liebenswert und bedeutungslos sei."
    Kampagnenbild von kontroverbal zum Thema "Love Bombing". Bild: kontroverbal

    N: Es ist mir wichtig, darüber aufzuklären. Ich selbst musste leider viele Erfahrungen mit toxischen Menschen machen, nicht nur in Paarbeziehungen, sondern auch in Freundschaften und auf der Arbeit. Es hat lange gedauert, bis ich überhaupt verstanden habe, was Menschen toxisch macht. Erst durch eine Psychotherapie habe ich gelernt, Red Flags früh zu erkennen und auch zu verstehen, was hinter vermeintlichen Liebesbekundungen und "nettem Verhalten" steckt. In meinen Beiträgen zu toxischen Beziehungen möchte ich das mit anderen Menschen teilen, was ich gerne schon viel eher gehört hätte: Wir sind nicht schuld und wir sind gut genug.

    Anne: Das Patriarchat ist stark. Weiblich gelesenen Personen strömt jeden Tag Misogynie und offener Hass entgegen. Wir können es niemandem recht machen. Sind wir schlank, werden wir fertig gemacht, weil wir "zu dünn" sind, haben wir unser Wohlfühlgewicht, werden wir als "fett" beschimpft. Schon als Kindern bläut man uns ein, wir wären "zu laut", "zu viel" und "zu chaotisch". Als Erwachsene laufen wir dann mit einem lädierten Selbstwertgefühl in sämtliche Fallen, die das System für uns bereithält. Männer haben von Haus aus eine höhere Relevanz und ihnen wird nicht nur im Berufsleben eine größere Wertigkeit zugesprochen. Zwar gibt es inzwischen in den Chefetagen Frauenquoten, allerdings besteht das mittlere Management nach wie vor vorwiegend aus weißen Cis-Männern. Arbeitet sich eine hoch, wird sie schnell von einem jüngeren Mann verdrängt, nur weil er lauter ist und die weiblich gelesenen Kolleg*innen unterbricht, wo es geht – ohne es zu merken. Wir leben im Jahr 2023. Warum ist das immer noch so?

    T: Weil Männer leider genauso sozialisiert wurden. In uns allen stecken Sexismus und internalisierte Misogynie, ob wir nun wollen oder nicht. Das ist ein Fakt. Jetzt gibt es zum Glück diejenigen, denen das bewusst ist und die aktiv daran arbeiten, an ihrem Frauenbild etwas zu ändern und Sexismus/Misogynie im Alltag nicht zu reproduzieren.

    Es gibt aber bedauerlicherweise auch diejenigen – und das ist in unserer von patriarchalen Strukturen geprägten Gesellschaft die Mehrzahl (vor allem in höheren Positionen) – denen das Bewusstsein dafür fehlt. Die sich dadurch benachteiligt fühlen und das Gefühl bekommen, ihnen würde etwas weggenommen werden. Na klar: Es ist bestimmt schwierig, wenn jemand plötzlich an den eigenen Privilegien rüttelt. Und dann heißt es für sie: Kämpfen. Lauter sein als Frauen. Ihnen ihr Können und ihre Fähigkeiten absprechen. Und das klappt ja leider auch häufig sehr gut.

    Ich bin mir sicher, dass sehr viele Männer Dein Beispiel aus der Frage erst mal grundsätzlich abstreiten würden. Wahrscheinlich gehen auch einige davon aus, dass sie durch die feministische Bewegung nur noch mit Nachteilen zu kämpfen hätten. Das Phänomen kann man auf viele Bereiche übertragen, in denen marginalisierte Gruppen endlich ein wenig Gleichstellung erfahren – und schlussendlich trotzdem noch benachteiligt werden. Hier wird Betroffenen ja auch häufig ihre Glaubhaftigkeit abgesprochen, sobald sie Diskriminierung aufdecken und enttarnen. Das Patriarchat und der Kapitalismus belohnen schlichtweg laute und eigennützige Menschen.

    Anne: Ich habe hier im Blog leider bisher viel zu selten über das Thema gesprochen. Als ich vor ein paar Wochen meinen Artikel zum Me-Too-Skandal um die Band Ramm****n gepostet habe, bekam ich zahlreiche Nachrichten und als ich damals einige Me Too Tweets veröffentlichte und dann auch hier im Blog teilte, musste ich irgendwann meine Inbox muten. Es ist gar nicht so einfach, das abzufedern. Ich für meinen Teil habe jedes Mal das Gefühl, dass sich ein "Tor zu Hölle" öffnet, wenn man Dinge klar und deutlich ausspricht – vor allem in den sozialen Netzwerken. Ihr beschäftigt Euch auf Eurem Instagram-Profil1 ja jeden Tag mit diesen Themen. Wie schafft Ihr es, Euch zu schützen und zwischendurch abzuschalten?

    "Social-Media-Pausen sind wichtig"

    Text im Bild: "kontroverbal". Eine Karikatur auf rosa Hintergrund. Personen v.l.n.r.: Till Lindemann, Markus Söder (im grünen Shrek-Kostüm), Friedrich Merz, Donald Trump, Elon Musk, Johnny Depp, Luke Mockridge. Hinter den Personen steht eine schwarze, weiblich gelesene Person, die eine Pride-Flagge schwenkt und lächelt.
    Kampagnenbild von kontroverbal zum Thema "Diversity". Bild: kontroverbal

    N: Wir behalten immer die Sache im Blick: die Auseinandersetzung mit Ungerechtigkeiten, den dringenden Wunsch für Veränderung. Seit wir uns aktiv mit diesen Themen beschäftigen, lernen wir immer mehr Menschen kennen, denen es genauso geht. Die mit der Welt, wie sie aktuell ist, überfordert sind, die verzweifelt sind, die es nicht verstehen, warum noch immer mit so viel Hass agiert wird. Es tut gut, zusammenzuhalten und einander zu stärken. Das ist auch einer der Gründe gewesen, weshalb wir uns dafür entschieden haben, auch online Aktivismus zu betreiben. Einen Safe Space zu schaffen, in dem man sich einfach nicht allein fühlt. Sich zusammenzutun, füreinander da zu sein.

    Auch Social-Media-Pausen sind essenziell. Man sollte niemals den Fehler begehen und sich schon am frühen Morgen in die Kommentarspalte schmeißen, dann ist der Tag möglicherweise schnell gelaufen.

    Und auch hier gilt: Viel reden hilft. Sich darüber bewusst werden, woher der Hass dieser Menschen kommt und was das eigentlich für kleine armselige Personen sind, dass die sich so auf Minderheiten stürzen müssen.

    Anne: Im Moment kommen fast täglich schockierende Nachrichten ans Tageslicht, bei denen es um Personen geht, die in der Öffentlichkeit stehen und übergriffig primär gegenüber Frauen in ihrem Umfeld wurden. Die meisten der Fälle verschwinden nach einem kurzen und heftigen Skandal wieder in der Versenkung. Falls es zu Verhandlungen kommt, verlaufen diese meist im Sande. Die angeklagten Personen können ihrem Job im Rampenlicht einfach wie gewohnt weiter nachgehen und die Opfer können sich vor Hassnachrichten, Beschuldigungen und Absagen ihren Job betreffend kaum noch retten. Diese Täter-Opfer-Umkehr kann man wirklich fast in jedem Fall beobachten und sie führt dazu, dass die meisten Opfer einfach schweigen und sich ihr ganzes Leben lang nicht trauen, über den Missbrauch und die Übergriffe in ihrem Leben zu sprechen. Weil sie die Stigmatisierung fürchten, versuchen sie den ganzen Schmerz mit sich selbst auszumachen – was alles andere als einfach ist, während ihre Leidensgenoss**innen parallel öffentlich fertig gemacht werden und die Themen immer wieder angesprochen und jeden Tag aufs Neue getriggert und hochgeholt werden. Das ist eine – verzeiht meine Wortwahl – ganz schöne Schei*espirale in der wir uns da befinden. Wie kann das eigentlich sein, dass der Großteil der Menschheit das einfach so akzeptiert und nicht endlich mal, wer den Geschädigten wirklich Gehör schenkt? Warum ist dieser Mechanismus so tief in unserer Gesellschaft verankert?

    T: All das ist ein Machtmechanismus, der in unseren Augen dazu dient, Privilegien zu schützen. Männer machen sich häufig für andere Männer stark, höchstwahrscheinlich, weil sie sich selbst mindestens auch im Alltag sexistisch verhalten und vielleicht ähnlich und teilweise selbst übergriffiges Verhalten reproduzieren. Und es ist wahrscheinlicher, dass in einer männlich geprägten Gesellschaft eher Männern zugehört wird als marginalisierten Gruppen.

    "Glaubt Betroffenen!"

    Text im Bild: "Heimweg-Telefon: (030 12074182)". Der Text steht auf einem dunkelblauen Hintergrund, auf den eine gelb leuchtende Straßenlaterne in grau und braun gezeichnet ist.
    Kampagnenbild von kontroverbal zum Thema "Heimweg-Telefon". Bild: kontroverbal

    N: Einem weißen, wohlhabenden Mann glauben die Menschen mehr als einer schwarzen jungen Frau, um das mal kurz zusammenzufassen!

    Aber es neigen ja nicht nur Männer dazu, den Betroffenen nicht zu glauben. Auch bei FLINTA* kommt es vor, dass aus Selbstschutz und fehlender Realisation/fehlendem Eingeständnis, zu einer marginalisierten Gruppe zu gehören, oft ohne zu hinterfragen der männlichen Seite eine Solidarität ausgesprochen wird. Und das mit der Solidarität wäre gerade bei berühmten Künstlern eine so wichtige Sache:

    Glaubt den Menschen, denen übergriffiges Verhalten widerfahren ist und zeigt nicht als erste Reaktion ein Hinterfragen der Glaubwürdigkeit. Betroffenen zu glauben ist der erste Schritt, auch wenn das vielleicht bedeutet, den eigenen moralischen Kompass anzuwerfen und letztlich zu der Erkenntnis zu kommen, dass Künstler wie Ramm****n oder ein Dutzend andere absolut verwerfliche Dinge getan haben. Einfach, weil sie sich so sicher in ihren Privilegien gefühlt haben und sie niemand dafür Konsequenzen hat spüren lassen. Glücklicherweise gibt es in den vergangenen Jahren schon einige erfolgreiche Fälle, in denen Fehlverhalten sogar justiziabel nachgewiesen werden konnte, aber noch immer gibt es viel zu wenig Konsequenzen für Täter.

    Kunst und Künstler sollten nicht voneinander getrennt werden; das trägt nur zu Verharmlosung bei!

    Anne: Es gibt da dieses tolle Wort "Unschuldsvermutung", das auch die Trolle, die in diesen Fällen gerne die Täter in den Kommentarspalten verteidigen, als wären sie eine romantische Bindung mit ihnen eingegangen oder es würde sich um ganz besondere Heilige handeln, immer wieder so gerne verwenden. Insgesamt ist das ja richtig und gut und schön und super, dass es diese Gesetze gibt. Allerdings gilt diese Unschuldsvermutung ja doch auch für die Opfer, oder? Warum stellt sich niemand schützend vor sie, wenn – ich bleibe mal bei dem Wording – der Shitstorm wieder losgeht und die Schuld den Geschädigten in die Schuhe schiebt, während sich die Täter im Rampenlicht sonnen?

    "Die Angst, Privilegien abgeben zu müssen"

    Text im Bild: "kontroverbal – Der Fall Amber Heard und Johnny Depp – Teil 2 – der Prozess". Eine im Comicstil in beige und braun gezeichnete Karikatur von Johnny Depp auf einem dunkelblauen Hintergrund.
    Grafik von kontroverbal zum Thema "Der Fall Amber Heard und Johnny Depp". Bild: kontroverbal

    T: Weil die Misogynie noch immer so tief verankert ist, dass diese Menschen immer sofort davon ausgehen, dass sich alle FLINTA* verbünden und Männern etwas wegnehmen möchten; und das ist einfach ein unwahres Vorurteil! Niemand wollte bloß "Fame" oder Geld, denn der Backlash, der aus solchen Anschuldigungen entsteht, zeigt, was einer betroffenen Person dann wirklich droht: Einschüchterungsversuche der Gegenseite, verbaler Hass aus der Öffentlichkeit oder kurz gesagt: nur noch mehr Gewalterfahrungen.

    Im Grunde ist das wieder die Angst, Privilegien weggenommen zu bekommen – und die Angst vor echten Konsequenzen. Was das öffentliche Bild dann oft verzerrt, sind bewusst missinterpretierte Statistiken, die sogar die Polizei herausgibt. In Rostock wurde über das Jahr 2017 eine Kriminalstatistik zu sexuellen Übergriffen gegen Frauen herausgebracht. Es gab 78 eingeleitete Verfahren, 63 davon wurden eingestellt, wegen "begründeter Zweifel".

    In der lokalen und regionalen Presse sind darauf basierend dann Schlagzeilen zu lesen, wie "Acht von zehn Vergewaltigungen vorgetäuscht". Eine komplett falsche Interpretation der Statistik und außerdem ist ein eingestelltes Verfahren zudem auch noch etwas ganz anderes als ein Freispruch. Das Justizsystem ist in den allermeisten Fällen ein Täterschutz-System in dieser Kategorie. Wenn es dann wie bei Ramm****n heißt:

    "Verfahren eingestellt",

    denkt sich ein Großteil der Fans:

    "Super, dann war da nichts dran, also kann ich einfach absolut unkritisch weiter zu Konzerten gehen und die Band weiterhören".

    Das trägt dazu bei, dass FLINTA* kein Glauben geschenkt wird, weil der Eindruck weitverbreitet ist, dass sexuelle Übergriffe nur "vorgetäuscht" seien. Internationale Statistiken auf europäischer Ebene beziffern den Anteil von Falschaussagen bei (konkreten) Vergewaltigungsvorwürfen übrigens auf drei Prozent.

    Anne: N, jemand spricht Dich darauf an, dass Du mit dem Kleidungsstück, dass Du gerade trägst, kulturelle Aneignung begehst. Was entgegnest Du der Person?

    "Anerkennen, reflektieren und in Zukunft bewusster handeln"

    Text im Bild: "kontroverbal – Legale Abbrüche retten leben". Die Schrift ist weiß auf einem lilafarbenen Hintergrund mit Verlauf, eingerahmt von zwei orangefarbenen Schleifen.
    Kampagnenbild von kontroverbal zum Thema "Legale Schwangerschaftsabbrüche". Bild: kontroverbal

    N: Zuerst einmal: Ich hinterfrage es nicht. Es gibt keine Diskussion. Ich nehme die Person ernst. Ich nehme das an, akzeptiere es, ohne Wenn und Aber. Dann entschuldige ich mich für meine aus Unwissenheit entsprungene Ignoranz und dafür, dass ich sie und viele weitere Menschen damit verletzt habe. Und werde natürlich dieses Kleidungsstück so schnell wie möglich entsorgen.

    Und auch wenn das für viele, die nicht von Rassismus betroffen sind, im ersten Moment unbequem zu sein scheint: Es muss uns bewusst sein, dass wir damit sowieso schon von Diskriminierung betroffene Menschen noch weiter diskriminieren und verletzen. Für uns ist es für ein paar Sekunden unbequem oder eine Umgewöhnung, die betroffene Person hat aber ihr Leben lang mit rassistischen Anfeindungen zu tun. Deswegen sollte es selbstverständlich sein, dieses Kleidungsstück (oder eine Frisur) dann abzulegen.

    Anne: Wart Ihr schon immer politisch aktiv?

    N: Politisch ja, aber sehr lange zu leise. Bei mir hat das mit der Entscheidung, mich vegan zu ernähren und die Strukturen und Ungerechtigkeiten für Mensch und Tier hinter der Fleischindustrie zu hinterfragen. Dadurch kamen dann mehr und mehr andere Themen auf den Tisch, weil alles einfach miteinander verknüpft ist (hallo Patriarchat, hallo Kapitalismus).

    T: Das war bei mir sehr ähnlich: Ich war immer politisch, aber auch sehr lange zu leise. Ich habe früher bei politischen Bildungsprojekten mitgearbeitet und Einblicke erhalten können, aber diese nicht aktiv umgesetzt, außer vielleicht im eigenen Freundes- und Bekanntenkreis. Im Laufe des letzten Jahres habe ich dann bemerkt, wie leise mein eigenes Umfeld bei manchen Themen ist und wie sehr es mich stört, dass viele so passiv sind und nichts ändern oder dagegen machen wollen. Daraus wurde der Wunsch, aktiv zu werden und kontroverbal zusammen mit N. ist bestimmt noch nicht das Ende dieser Entwicklung. Gerade suchen wir zum Beispiel nach lokalen Treffen von aktivistischen Gruppierungen, um noch mehr Kontakte zu knüpfen.

    Anne: Ihr lebt ja beide schon länger vegan. Ist das ein Thema, das Ihr auch mit kontroverbal ansprecht?

    "Veganismus und Tierrechte zählen zu unseren wichtigsten Themen"

    Text im Bild: "kontroverbal". Eine weiblich gelesene Person mit schulterlangem Haar, einem grauen T-Shirt, einer schwarzen Hose und einem grünen Hemd steht links neben einer männlich gelesenen Person mit kurzem Haar, einer dunkelblauen Mütze, einem weinroten T-Shirt, einer grauen Hose und einem schwarzen Hemd. Beide sind im Comicstil gezeichnet. Der Hintergrund ist helllila. Beide heben eine Faust und halten sich an den Händen.".
    Profilbild von kontroverbal. Bild: kontroverbal

    T: Auf jeden Fall! Bisher haben wir bisher nicht allzu viel zu dem Thema gebracht, weil wir uns mit anderen Dingen beschäftigt haben. Aber als wir kontroverbal gestartet haben, haben wir einen mehrseitigen Content-Plan erstellt und Veganismus und Tierschutz haben darauf prominente Plätze. Gerade für N. ist das Thema auch ein Wichtiges, sie lebt schon deutlich länger vegan und sie würde ich da als absolute Expertin heranziehen.

    Anne: Wie geht Ihr damit um, wenn Menschen im Alltag rücksichtslos mit Tieren umgehen? Ich habe diese klassische Fußgängerzonen-Situation im Kopf: Ein Kind rennt in einen Schwarm Stadttauben und die Erziehungsperson interessiert sich nicht dafür.

    N: Zum Glück habe ich in meinem Leben bislang nicht so häufig solche Situationen erlebt. Ich erwische mich aber dabei, dass ich dann manchmal fassungslos bin und mir die Worte fehlen. Das ist übrigens einer der Hauptgründe gewesen, wieso wir uns entschieden haben, kontroverbal als Platz für unsere Gedanken zu nutzen: Wie gehe ich im Alltag damit um, wenn jemand etwas Rassistisches, Diskriminierendes oder Rücksichtsloses sagt beziehungsweise macht? Als Selbstreflexion, quasi. Ich glaube, da steckt ganz viel Übung hinter, um so etwas souverän anzusprechen. Und vor allem Überwindung. Und bei ganz fremden Menschen kostet es mich noch sehr viel Überwindung, etwas dazu zu sagen.

    Anne: Es gibt ja zwei Hauptgruppen, wenn es um das Thema geht: Die Menschen in der einen Gruppe haben nichts mit Veganismus am Hut, weil sie einfach verdrängt haben, wie schlimm es den Tieren in der Industrie ergeht. Sie sind auch diejenigen, die einen Unterschied zwischen ihrem Hund oder ihrer Katze und einem Schwein im Stall sehen (Stichwort Speziesismus). Ihnen kann man dann auch relativ einfach Hafermilch und Linsen schmackhaft machen und da gut und schnell für Aufklärung sorgen oder zumindest Interesse wecken. Den Leuten in der zweiten Gruppe sind Tiere schlicht egal. Sie interessieren sich nicht dafür, wenn jemand einer Katze am Schwanz zieht oder einem Hund auf die Pfote tritt und sie interessieren sich nicht dafür, wenn Puten mit Laser die Schnäbel gekürzt, Küken geschreddert, Schweine geschlachtet oder Nerze für ihre Pelze in Käfigen gehalten werden. Sie erzählen dann auch gerne in Vegan-Foren, dass sie sich gerade ein blutiges Steak auf den Grill geworfen haben und bestellen im Lokal demonstrativ ein Schweine-Schnitzel, wenn Du mit ihnen essen gehst.

    N., wie begegnest Du solchen Menschen im Alltag? Würdest Du sagen, bei denen ist "ohnehin Hopfen und Malz verloren" und beschäftigst Dich lieber mit der ersten Gruppe oder nimmst Du die Herausforderung an?

    N: Ich bin ganz ehrlich: Mit diesen Menschen möchte ich mich nicht beschäftigen. Mit Aufklärung kann man sicherlich ganz viel erreichen, vor allem bei der ersten Gruppe, denn ich glaube, zu dieser haben wir alle bis zu einem gewissen Grad mal gehört. Vielen ist das Leid ja gar nicht bewusst und sobald sie sich damit mehr beschäftigen, zeigen sie sich offen dafür, etwas an ihrer Ernährung oder ihrem Lebensstil zu ändern. Bei der zweiten Gruppe kann ich mir das einfach nicht vorstellen. Allein bei Deiner Beschreibung dieser Gruppe habe ich schon bemerkt, dass das etwas in mir auslöst und ich mich schlecht fühle. Vielleicht, weil ich mit genau dieser Art von Mensch schon so viele Diskussionen hatte, bei denen mir meine Argumente und meine Gefühle abgesprochen wurden. Häufig fühlt sich das nach reiner Provokation an. Und dafür sind mir meine Zeit und meine Nerven einfach zu kostbar. Da beschäftige ich mich lieber mit denjenigen, die offen für das Thema sind und Empathie zeigen.

    "Wir wollen die Menschen über unbequeme Themen aufklären"

    Anne: Mit welchen Vorbildern seid Ihr aufgewachsen? Waren Eure Erziehungspersonen politisch aktiv?

    T: Nein, beide nicht; die einzige kleine Vorbildfunktion in dieser Hinsicht waren meine Urgroßeltern. Von denen habe ich mal gehört und gelesen, dass sie zur NS-Zeit und davor politisch Widerstand geleistet haben. Meine Eltern haben mich lediglich schon sehr früh dafür sensibilisiert, dass dieser Teil der deutschen Geschichte wichtig ist und auf keinen Fall in Vergessenheit geraten soll. Selbst politisch aktiv sind aber beide nie gewesen.

    N: Meine Eltern hatten da für mich leider keine wirkliche Vorbildfunktion und ich erwische mich immer häufiger dabei, dass ich anstrengende Diskussionen über "woke" Themen mit ihnen führen muss.

    Bei mir ist das durch die vegane Szene immer präsenter geworden. Man hat sich verknüpft, sich ausgetauscht, aktivistische Menschen kennengelernt und dadurch wurde mir bewusst, dass es wichtig ist, laut zu werden, eine Position zu vertreten und sich für marginalisierte Menschen einzusetzen.

    Anne: Mit kontroverbal habt Ihr auf Instagram ein bemerkenswertes Tempo vorgelegt. Ihr postet eigentlich jeden Tag neue Beiträge. Plant Ihr, in Zukunft noch eins draufzusetzen? Werdet Ihr weitere Kanäle bespielen? Einen Blog? Einen Podcast? Ich würde es ja ziemlich feiern!

    N: Erst mal möchten wir so weitermachen. Wir haben schon häufiger – scherzhaft – darüber gesprochen, mal einen Podcast zu machen. Erst gestern haben wir uns wieder drei Stunden lang darüber unterhalten, was an patriarchalen Strukturen eigentlich alles schei*ße ist und dachten uns danach, dass das auch eine gute Podcastfolge abgeben würde. Aber aktuell steht das nicht auf der Liste und ist nicht unsere Priorität. Unsere Priorität ist, über unseren Kanal Awareness zu schaffen, Menschen zu verbinden, auf Missstände aufmerksam zu machen und bei Ungerechtigkeiten und Diskriminierung laut zu werden.

    Anne: Vielen Dank, Ihr beiden, dass Ihr Euch für dieses Interview freigemacht habt! Es war mir eine Freude, mich mit Euch auszutauschen. Ich freue mich schon auf unsere kommenden Gespräche und vor allem darauf, wie es mit Euren Plänen weitergeht! Alles Gute und viel Kraft für die Themen, mit denen Ihr Euch auseinandersetzt! Danke, dass Ihr Euch für uns starkmacht!

    N: Danke Anne. Ich wünsche auch Dir viel Kraft. Es ist ermüdend momentan, aber ich bin froh, Menschen wie dich zu kennen, die mir zeigen, dass man nicht allein ist!

    T: Danke Dir! Viel Kraft und alles Gute für Deine Pläne!

    1. kontoverbal auf Instagram

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