Ich bin eine Tochter
Brief an den Bundeskanzler
Offener Brief von Anne
22.10.2025 — Lesezeit: 2 min

Sehr geehrter Herr Merz,
ich bin eine Tochter.
Mein Vater hat mich gefragt und ich habe ihm gesagt, was mir Angst macht: weiße Männer. Und ich habe meine Gründe unterschiedlichster Abstufung dafür, auf die ich an dieser Stelle nicht im Detail eingehen werde. Und ja, wenn ich es in Ihren Worten sagen würde, würde ich es so formulieren: "Sie stören auch mein Stadtbild." Denn sie sprechen mich jeden Tag an. Ungefragt verstellen sie mir den Weg und lassen mich nicht weiter. Drängen mir Gespräche auf, bevormunden mich, erklären mir die Welt, werten mich ab, graben mich an und reagieren aggressiv, wenn ich einfach weitergehen möchte oder etwas sage. Sitzen breitbeinig in der U-Bahn vor mir und nehmen wie selbstverständlich jeden Raum ein. Werden überall bevorzugt, erhalten den Job, die Beförderung, den höheren Lohn, die Zusprache. Und das ist noch das Geringste.
Auch Sie sind ein weißer Mann, Herr Merz, und Sie machen mir besonders Angst. Weil Sie rechte Narrative weitererzählen und damit die Gesellschaft spalten und die gefährlichste Partei unserer Zeit noch stärker machen. Nachdem Sie deren Zahlen bereits verdoppelt haben. Anstatt sie zu halbieren, wie Sie versprachen. Sich um Ihre Koalition kümmern. Die Regierung zusammenhalten. Um gemeinsam gegen die größte Bedrohung der Menschheit vorzugehen: die Klimakatastrophe, die vor der Tür steht und sich immer weiter beschleunigt. Auch hierzulande wird es bald Menschen geben, die vor Hochwasser & Co. flüchten müssen. Was dann zählt, ist Solidarität, nicht Ausgrenzung. Doch dafür stehen Sie. Sie grenzen aus und stigmatisieren. Und jetzt wollen Sie uns Töchter instrumentalisieren? Längst nicht nur das erinnert an eine sehr finstere Zeit.
Ich für meinen Teil sage nein. Ich lasse das nicht mit mir machen. Das ist er. Der Gipfel des "weiße Männer denken ganz selbstverständlich, wir tanzen nach ihrer Pfeife". Nein, Herr Merz. Einfach nein.
Ich fordere:
- Eine verantwortungsbewusste Regierung, die ein Stadtbild der Vielfalt weiter ausbaut und zügig barrierefrei macht und damit meine Freund*innen, mein soziales Umfeld und meinen Safe Space wertschätzt und fördert.
- Eine Sprache, die alle mitmeint und zusammenführt, statt auszugrenzen und Hass salonfähig zu machen.
- Verantwortung für öffentliche Rhetorik, besonders von denen in Machtpositionen. Sprich: in diesem Land zuallererst von Ihnen als Bundeskanzler. Eine Politik, die Menschenrechte nicht als Belastung sieht, sondern als Fundament. Und sich an Fakten und menschlichen Realitäten orientiert. Dem, was uns wirklich beschäftigt und was wir jeden Tag erleben.
Als Tochter bin ich eine von vielen, die dieses Land erleben. Auch, wenn sich viele von uns inzwischen nicht mehr sicher sind, "ob wir hier dazugehören", sind wir dennoch Teil des von Ihnen regierten Landes und seiner Zukunft. Wie wäre es, wenn Sie versuchen, ein kleines bisschen weniger daran zu arbeiten, sie uns komplett zu verbauen? Denn ich bin mir sicher, dass nicht nur ich davon überzeugt bin, dass ein Stadtbild und damit eine Gesellschaft nicht aus Angst, sondern aus Begegnung wächst.
Mit freundlichen Grüßen
Anne Reis, freiberufliche Texterin
anne-reis.de
soundsvegan.com
Dieser Beitrag bezieht sich auf die jüngste Aussage von Bundeskanzler F. Merz, der in einer Pressekonferenz im Kontext von Migration davon sprach, dass man "im Stadtbild noch dieses Problem" habe und man daher jetzt an "Rückführungen in großem Umfang" arbeite. Auf die Frage hin, ob er dies ernst meine, antwortete er unter anderem mit "Fragen Sie Ihre Töchter".