Was der Fall Rammstein mit der Musikwelt macht
Wie machen wir weiter?
TW: Rammstein, sexualisierte Gewalt, Angst, Schimpfwörter, Flashbacks, KO-Tropfen
Wann gilt die Unschuldsvermutung endlich auch für Überlebende? Genau das ist der Gedanke, der mir, seit ich das erste Mal von Shelby Lynns Schilderungen hörte und ihre Bilder sah und Texte las, durch den Kopf geht.
Seitdem fühle ich mich wie in einer Art Starre. Außer Stande über dieses Thema zu berichten oder in meinem Blog eine Stellungnahme dazu abzugeben. Dabei sollte ich das als weiblich gelesene*r Musikblogger*in genau jetzt tun, oder? Als Musikfan. Musiknerd. Person, die selbst schon kurz Teil von Bands war und dann schlechte Erfahrungen mit Cis-männlichen Teilen dieser Projekte machte und sich anschließend komplett aus der Szene zurückzog – zu gefährlich, zu toxisch, zu schmerzhaft.
Ich habe mich selbst in meinem Leben nicht nur einmal in einer Situation befunden, von der ich heute sagen würde... Ich weiß nicht, was ich heute darüber sagen würde. Und ich möchte das hier auch nicht ausrollen. Ich kann nur sagen, dass der Fall Rammstein in mir unglaublich viel von dem hervorgeholt hat, über das ich dachte, hinweg zu sein. Und das fühlt sich verdammt scheiße an.
Auf der anderen Seite muss ich sagen, dass ich sehr froh bin, dass heute über Themen geredet wird, die früher unter den Teppich gewandert sind. Jede*r Betroffene machte diese Dinge eben mit sich selbst aus. Aufklärung in diese Richtung gab und gibt es bis heute nicht. Als Person, die sich als Mädchen fühlt oder die als Mädchen gesehen wird, bist Du diesem System und der Dynamik dahinter hilflos ausgeliefert. Niemand bereitet Dich darauf vor, was da draußen auf Dich wartet. Ich hoffe wirklich sehr, dass das in Zukunft anders ist und sich endlich etwas ändert. So kann es jedenfalls nicht weitergehen.
Weil ich, wie gesagt, selbst weder eine Einordnung noch ein Statement dazu abgeben kann, habe ich mich dazu entschlossen, an dieser Stelle einen Gastbeitrag zu posten. Von einem Cis-Mann. Dem Mann an meiner Seite. In dessen Begleitung ich jetzt seit zehn Jahren auf Konzerte gehe und mich seither, das gebe ich an dieser Stelle zu, dort sicherer fühle. Auch wenn es für mich immer wieder Überwindung kostet. Als Musikfan liebe ich Konzerte. Was ich nicht liebe, sind die rücksichtslosen Typen, die im Moshpit ungefragt ihr Shirt ausziehen, ihre Ellbogen genau in Gesichtshöhe, in Weichteilhöhe, ihr wisst, was ich meine.
Hände am Hintern, in den Haaren. Das alles habe ich tausendmal erlebt. Dennoch möchte ich mir meine Konzerte nicht wegnehmen lassen. Das Gefühl dort ist immer ein Gemisch aus Freude über den Gig und Angst. Angst angefasst zu werden. Immer die flache Hand über dem Becher. Ja, ich habe auch in dieser Hinsicht meine Erfahrungen gemacht. In Clubs, auf Parties und auf Konzerten. Nein, ich werde hier nicht näher darauf eingehen. Es soll nur eine kurze Erklärung sein, warum ich nicht selbst schreibe über das Thema, das seit Wochen wie eine schwarze Wolke über meinem und dem Kopf einiger meiner Freund⋆innen hängt, die Ähnliches erleben wie ich gerade: Flashbacks. Heulkrämpfe. Schlaflose Nächte. Angst. Fassungslosigkeit.
Ich übergebe das Wort und die Frage "Wie machen wir weiter?" an dieser Stelle an Matze, der so lieb war, dieses Statement für meinen Blog zu schreiben.
Die Band Rammstein ist zurzeit überall in den Medien. Zu Recht wird die Situation in den meisten Medien kritisch kommentiert. Allerdings kommt zunehmend aus verschiedenen Gründen auch das Gefühl auf, dass man der Geschichte nicht mehr so viel Bühne geben sollte: Für die Band bedeutet sie Publicity. Ihre Plattenverkäufe steigen im Moment.
Andererseits fühlt man sich als Musikblog verständlicherweise dazu verpflichtet, sich zu positionieren. Anne hat daher etwas Überraschendes getan und mich als, vielleicht in ihren Augen neutrale Person, gebeten, dieses Statement zu übernehmen. Keine Ahnung, ob ich das kann, aber zumindest möchte ich es versuchen.
Ich hab's bequem. Ich bin ein Gen-X-Ein-Meter-Neunzig-Cis-Mann. Wenn ich auf Konzerte gehe, gibt es maximal zwei Stellen im ganzen Konzertsaal, an denen ich nicht genug sehe. Schiebe ich mich dann 30 Zentimeter weiter nach links oder rechts, habe ich wieder die volle Experience. Ich werde von niemandem belästigt, angepöbelt oder komisch angeschaut.
Um es daher klar zu formulieren. Das, worüber ich hier berichte, kenne ich offensichtlich nicht aus erster Hand. Ich bin aber auch davon überzeugt, dass die große Mehrheit nicht aus erster Hand weiß, was da bei Konzerten hinter der Bühne oder im Publikum vorgeht. Von daher kann ich nur an alle appellieren, den Originalberichten von Frauen wie Shelby Lynn oder Kayla Shyx zu glauben und speziell diese Seite der Geschichte nicht vorzuverurteilen oder unglaubwürdig zu machen.
Die Musikindustrie führt schon ein seltsames Eigenleben. In dieser Saison haben viele Festival-Booker speziell darauf geachtet, mehr weibliche Acts auf die Bühne zu bringen. Ohne Erfolg. Es gibt einfach nicht genug. Das allein ist schon ein Indiz, dass das Business an sich ein strukturelles Problem hat, das man nicht innerhalb eines Jahres heilen kann.
Unter anderem deshalb melden sich inzwischen Wochenende für Wochenende vorwiegend männliche Bands auf ihren Open-Air-Bühnen vor ihren 10.000+x Fans zu Wort. Sie positionieren sich – natürlich gegen nicht einvernehmlichen Sex und gegen die Ausnutzung von Macht- und Abhängigkeitssituationen im Umfeld von Konzerten und natürlich ohne Rammstein explizit zu nennen. Was erst mal OK klingt, hat für mich einen etwas fischigen Eigengeschmack. Im besten Fall reduzieren solche Aussagen den potenziellen Tatbestand rund um Rammstein als "Einzelfall" und eben nicht als systematisches Problem der Musikindustrie und der Gesellschaft. Aber für mich gibt es weitere, konkretere Untertöne.
- Menschen ordnen alles in Schubladen ein, richtig? Das passiert mir auch mit Bands. Es gibt durchaus Bands, denen man so etwas zutrauen würde, ganz egal, ob man den Musikern unrecht tut, oder nicht. Zumindest mein Gehirn hat diesen Reflex. Wenn sich eine solche Band explizit kritisch zu den Vorfällen äußert, scheint mir das Statement im besten Fall wertlos zu sein. Im schlimmsten Fall ist mein erster Gedanke "Vielleicht sollte man bei denen auch mal genauer nachsehen". Ob gerechtfertigt, oder nicht, die Band tut sich keinen Gefallen damit.
- Dann gibt es "die Guten", denen man es ohnehin nicht zutrauen würde. Einige davon haben auch versucht, das Thema anzusprechen und bei den meisten ging es daneben. Die Ärzte haben sich zum Beispiel mit ihren Aussagen1 so heftig in die Nesseln gesetzt, dass viele Fans jetzt auf Abstand gehen. Andere machen es etwas besser.2 Aber in allen Fällen wäre es, glaube ich, besser gewesen, nichts zu sagen. Die einzige Aussage, die ich von einer Band hören will, kam zum Beispiel von Kraftklub3. Es ist das Mantra "Glaubt den Opfern".
- Und dann gibt es noch ein weiteres Motiv: PR. Sich gegen Rammstein zu positionieren ist gut fürs Image und das wiederum ist gut für die Verkäufe. Und im Zweifel ist es dieser bittere Beigeschmack des Trittbrettfahrens, der immer bleibt.
Von wem würde ich jetzt stattdessen gerne Statements hören? Natürlich von der Staatsanwaltschaft. "Wir haben da was gefunden" wäre natürlich das beste aller möglichen Stellungnahmen. Aber als Zweites würde ich gerne von den Konzertveranstaltern hören. So etwas wie ein "Die Gäste der Bands sind unsere Gäste und deswegen passen wir auf. Wir versuchen alles, um solche fragwürdigen Situationen, Räumlichkeiten, Machenschaften erst gar nicht möglich zu machen".
Doch dann habe ich die Rechnung aufgemacht. 50.000 Fans auf jedem Stadion-Rock-Konzert, 100 Euro pro Karte, 30 Euro Zusatzumsatz für Getränke macht einen Umsatz von 6 Millionen pro Konzert. 50 Konzerte pro Tour macht (fucking) 300 Millionen Euro – für einen solchen Act konservativ gerechnet. Wenn ich vorher nicht wusste, was die Leute meinen, wenn sie von "Macht" reden, dann spätestens jetzt. Was soll man also von Veranstaltern und Management verlangen, wenn so viel Geld auf dem Spiel steht?
Rammstein selbst haben ja "proaktiv" dafür gesorgt, dass man Angst hat, über das Thema zu reden und selbstverständlich darf man auch auf dieser Seite nicht vorverurteilen. Auf die eigentlichen Anschuldigungen möchte ich auch gar nicht eingehen. Aber ich möchte noch mal die Rechnung aus dem vorherigen Absatz und damit auch die Meinung von Sarah Bosetti4 aufgreifen: Das sind keine "Jungs", bei denen gerade "eine Welt zusammenbricht". Das sind "gestandene", ultrareiche, 60-jährige Männer mit Macht und jetzt steht ein kleiner Teil ihrer Macht auf dem Spiel. Und das sollte man, glaube ich, immer im Hinterkopf haben, wenn man zukünftig Aussagen der Band oder des Managements hört.
Zum Schluss noch eine Prognose: Das Thema wird in ein paar Jahren in einem unbefriedigenden Prozess beendet. In der Musikindustrie ändert sich deswegen nichts. Allerdings werden weitere Fälle bekannt.
So. Nicht nur wegen der aktuellen Hitze, sondern vor allem auch wegen der ekelhaft abstoßenden Geschichte (auf deren Details ich bewusst überhaupt nicht eingegangen bin, Ihr könnt das ja überall nachlesen) habe ich jetzt das Gefühl eine Dusche zu benötigen.
Matze