Interview mit Vegan Bullerbyn Gründerin Anna Ritzinger
"Wenn wir nur Aktivismus für Veganer*innen machen, werden wir nichts verändern"
Mitten im fränkischen Outback hat Anna Ritzinger mit ihrer Familie einen Ort geschaffen, an dem Tiere in Frieden leben können: Vegan Bullerbyn. Was einst als persönliche Entscheidung für ein veganes Leben begann, entwickelte sich rasant zu einem liebevoll geführten Lebenshof, auf dem gerettete Tiere ein liebevolles Zuhause finden. Hier, auf diesem einzigartigen Stück Land, verbindet das Model einen tiefen Kindheitstraum mit gelebtem Aktivismus. Dabei verdeutlicht sie, dass ein respektvolles Miteinander aller Lebewesen möglich ist. Lest jetzt mein Interview mit Anna und erfahrt, was sie antreibt, wie sie ihren Aktivismus lebt und wie man mit 130 Tieren umzieht.
Hühner klettern auf Bäume, Schweine verstecken sich im Wald und Nutrias baden im Bach. Was sich anhört, wie aus einem Märchen, ist in Annas Veganien Wirklichkeit. Gemeinsam mit zahlreichen lieben Menschen hegt und pflegt sie die Tiere von Vegan Bullerbyn und zeigt der Welt, wo Veganismus hinführt, wenn er konsequent umgesetzt wird.
Anne: Hallo Anna, vielen Dank, dass Du Dir die Zeit nimmst! Wie schön, ich mag die Kulisse sehr!
Anna R.: Hallo! Es freut mich, dass es geklappt hat! Es ist alles noch etwas improvisiert hier nach unserem Umzug. Ich habe mich auch nicht schick gemacht, ich dachte, Du nimmst mich auch in Stallklamotten. Ich sitze hier gerade in unserem Übergangsbüro in einer Holzhütte neben unserem Schweinebereich.
Anne: Ihr seid gerade frisch umgezogen. Dann steckt Ihr sicher noch mitten im Einrichtungstrubel, oder?
Anna R.: Ja! Wir wohnen aktuell alle noch in Campern, weil das Haus gerade noch saniert wird. Die Wasserleitungen sind jetzt fertig und jetzt wird noch die Heizung und alles Weitere eingerichtet.
Anne: Im Moment ist es besonders morgens schon ziemlich kalt. Das ist sicher eine ziemliche Herausforderung, oder?
Anna R.: Auf jeden Fall. 130 Tiere zu versorgen und die Kinder für die Schule fertig zu machen ist im Moment schon noch mal was anderes. Besonders, wenn es morgens regnet und kalt ist.
Anne: Ist dann so auch Dein heutiger Morgen verlaufen?
Anna R.: Wir haben im Moment zwei Praktikant*innen, die sich um die Tiere kümmern. Ich habe morgens hauptsächlich die Kinder, bin aber als Ansprechpartnerin natürlich trotzdem da. Es ist immer eine Person aus unserem Kernteam da, die unsere Praktikant*innen unterstützt – sollte etwas Besonderes anfallen, noch eine zweite Person. Und zwei Personen sind immer damit beschäftigt, dass die Kinder alles haben, dass sie rechtzeitig im Schulbus sitzen und es ihnen gut geht. Gerade jetzt, da hier überall Baustelle ist, achten wir natürlich verstärkt auf sie.
Anne: Wie viele Menschen leben aktuell insgesamt in Vegan Bullerbyn?
Anna R.: Durch unser offenes-Tor-Konzept geht es bei uns sehr gemeinschaftlich zu. Aktuell leben hier fest drei Erwachsene und vier Kinder. Dazu kommen eigentlich immer zwei Praktikant*innen. Die wechseln sich immer ab und bleiben immer zwischen zwei Monaten und einem Jahr bei uns. Dann gibt es immer freiwillige Helfer*innen, die uns unterstützen. Momentan ist das eine Person, die schon längere Zeit ihren Wohnwagen hier stehen hat. Hinzu kommen zwei Personen, die gerade dabei sind, zu uns zu ziehen und ihren Lebensmittelpunkt nach Vegan Bullerbyn zu verlegen. Insgesamt ist es immer sehr lebendig bei uns. Fast jeden Tag sind Helfer*innen da oder Menschen, die zu Besuch kommen.
Anne: Du musst ein ziemliches Organisationstalent sein, um das alles zu stemmen! Wolltest Du schon immer so etwas machen?
"Wir sind mit Vegan Bullerbyn gewachsen"
Anna Ritzinger, Vegan Bullerbyn
Anna R.: Tatsächlich gar nicht. Als wir angefangen haben, war uns noch gar nicht bewusst, dass wir jetzt ein Lebenshof sind. Ich kannte damals auch keine anderen Lebenshöfe. Ursprünglich war unsere Idee einfach, unseren Wohnraum mit ein paar geretteten Tieren zu teilen und darüber Aktivismus zu machen. Erst, als wir das schon hatten, fiel uns auf, dass es ja noch andere gibt, die das auch machen und haben uns gefragt, wie sie es umsetzen. Es war am Anfang auch in kleinster Weise absehbar, dass es zu einem so großen Projekt werden würde. Ganz im Gegenteil. Wir hatten gedacht, dass wir es im kleinen Rahmen und privat machen. Den Moment, in dem wir uns bewusst dazu entschieden haben, dieses Projekt zu sein, hat es nie gegeben.
Wir sind mit dem Projekt gewachsen. Es sind immer mehr Tiere dazugekommen und es haben sich uns immer mehr Menschen angeschlossen, die auch ihre Inspiration und Motivation, ihre eigenen Ideen und ihren eigenen Anteil mitgebracht haben. Und genau das ist es, was es für mich so wertvoll macht. Vom kleinen, persönlichen Traum "Veganismus als gelebte Realität" zum großen Projekt inklusive bio-veganem Gemüseanbau, landwirtschaftlichen Skills, die uns die Gespräche mit Landwirt*innen und Ämtern sehr erleichtern. Wir wissen, wovon wir sprechen, und das ist auch wichtig. Auch, um ernst genommen zu werden.
Diese ganzen Dinge haben sich nicht allein aus uns heraus entwickelt. Eine Person, die sehr lange als Praktikant bei uns war und noch heute sehr eng mit uns verbunden ist und immer wieder kommt, ist zum Beispiel studierter Biologe und hat uns gerade bei der Entwicklung des Bereichs Gemüseanbau sehr unterstützt.
Es ist schön, dass es diese Menschen gibt, die uns helfen. Sie entscheiden von sich aus, dass sie sich bei uns wohlfühlen. Vegan Bullerbyn ist für sie ein Safe Space und sie möchten sich von sich aus einbringen.
Um zu Deiner Kernfrage zurückzukommen, ob ich ein Organisationstalent bin: Ich würde mich tatsächlich eher als Chaotin bezeichnen. Obwohl es natürlich auch irgendwo meine Rolle ist, zu organisieren. Dadurch, dass die Menschen, die hier arbeiten, aber alle diese intrinsische Motivation mitbringen, müssen sie nicht für verschiedene Aufgaben eingeteilt werden. Es ergibt sich auf natürliche Weise, wer was übernimmt.
Die Feelgood Managerin
Anna Ritzinger, Vegan Bullerbyn
Wo ich eher die Verantwortung fühle, ist, dafür zu sorgen, dass sich alle wohlfühlen, niemand ein Problem hat oder nachzuschauen, ob es etwas gibt, das besprochen werden sollte – also mehr die Teamentwicklungsprozesse.
Wir tauschen uns beim Frühstück darüber aus, was aktuell ansteht. Wenn jeder weiß, was die anderen den Tag über auf dem Plan haben, wissen alle, an wen sie sich bei Fragen zu den unterschiedlichen Aufgaben am besten wenden. Beim Abendessen haben wir dann Gelegenheit, uns darüber auszutauschen, wie der Tag gelaufen ist. Dann sprechen wir auch darüber, wenn Demos anstehen und wer uns dorthin begleiten möchte.
Anne: Ich würde gerne noch mal auf Euren Umzug zurückkommen. Ihr seid mit dem kompletten Hof umgezogen. Das stelle ich mir als extremen logistischen Aufwand vor. Wie war das für Euch? Inzwischen seid Ihr ja einigermaßen gut angekommen. Wie habt Ihr das gestemmt?
Anna R.: Es hat vom Timing her hervorragend funktioniert, da wir den eigentlichen Umzug auf die Sommerferien gelegt haben. So musste niemand in die Schule oder den Kindergarten gebracht werden und wir konnten uns voll darauf konzentrieren. Wir haben schon vor den Ferien angefangen, die ersten Tiergruppen umzuziehen. Zwei Personen aus dem Team waren ab diesem Moment abwechselnd immer hier.
In den Sommerferien haben wir dann den Fokus darauf gelegt, alle Bereiche so weit fertig zu bekommen. Sie sind jetzt so weit eingerichtet, dass alle Tiere ihre Rückzugsmöglichkeiten haben, wir für die kalte Jahreszeit vorbereitet sind und alles vorschriftsgemäß ist.
Allerdings sind wir dennoch noch nicht komplett fertig. Unser Schweinebereich befindet sich im Moment zum Beispiel gerade mal auf einem Viertel der Fläche, die wir für ihn vorgesehen haben. Um die Auflagen aufgrund der Afrikanischen Schweinepest einzuhalten, benötigt der Bereich eine spezielle Umzäunung mit Untergrabungsschutz. Wir haben zwei Hektar Land, das wir auf diese Weise umzäunen – inklusive mehrerer Wälder. Den Untergrabungsschutz fräsen wir händisch mit einer kleinen Grabfräse. Das dauert seine Zeit.
Jetzt vor dem Winter konzentrieren wir uns auf das Wohnhaus, damit wir rechtzeitig fließend warmes Wasser und eine Heizung haben.
Anne: Habt Ihr Euch aus Platzgründen für den neuen Standort entschieden?
Anna R.: Ja genau. Der erste Hof, den wir kaufen wollten, befand sich zwar nur 15 Kilometer von unserem alten Standort entfernt, was wesentlich einfacherer gewesen wäre. Der Verkäufer, der zum Rindermastverband gehört, war jedoch mit unserem Vereinszweck nicht ganz einverstanden und wir haben uns schlussendlich auch selbst dagegen entschieden.
Wir sind dann mit mehreren Höfen in die Verhandlung gegangen und haben uns letzten Endes vor allem aufgrund der sieben Hektar, die uns hier zur Verfügung stehen, für diesen Standort entschieden. Das Gelände ist zudem sehr schön. Es gibt hier Biotope und Wälder und sogar einen Bachlauf, der sich durch das Grundstück zieht. Den Tieren bietet das alles natürlich einen erhöhten Wohnkomfort.
Nicht zuletzt ist die Anbindung hier super. Zwei Kilometer von hier gibt es einen Bahnhof, das ist schon ein ziemlicher Unterschied zum alten Hof, den man lediglich zweimal am Tag mit dem Schulbus erreichen konnte, wenn man kein Auto hatte.
Anne: Das ist ja auch ziemlich gut für Eure Besucher*innen! Von woher kommen die Menschen zu Euch?
Anna R.: Wir haben immer sehr viele Besucher*innen aus dem Nürnberger Raum. Die Leute kommen aber auch aus Leipzig, Berlin und anderen Städten zu uns. Die Lage macht Vegan Bullerbyn definitiv interessant für unsere Besucher*innen.
Anne: Wie werdet Ihr vor Ort angenommen?
Anna R.: Es freut uns sehr, wie die Stadt und auch der Landkreis auf unser Projekt reagiert haben. Sie haben uns gleich gesagt, dass sie es toll finden und uns gerne unterstützen möchten. Sie sehen es als Chance für die Gemeinde.
Der Bürgermeister meinte sogar, man könnte dann ja auch den Fahrradweg zu uns hoch laufen lassen und hat das auch direkt angepackt.
"Wir wurden hier mit offenen Armen empfangen"
Anna Ritzinger, Vegan Bullerbyn
Wir freuen uns sehr über diesen Zuspruch. Natürlich finden es trotzdem nicht alle gut, was wir machen und das können wir auch nicht erwarten. Allerdings bekommen wir auf jeden Fall die Chance, uns positiv in die Gemeinde zu integrieren, obwohl unsere Einstellung für viele natürlich auch heute immer noch krass ist.
Anne: Vor allem regt es natürlich auch zum Denken an und führt dazu, dass viele ihr eigenes Handeln noch mal kritisch hinterfragen, oder? Ich stelle es mir als sehr gute Möglichkeit vor, auch Menschen außerhalb der veganen Bubble zu erreichen.
Anna R.: Wir versuchen uns auch immer selbst daran zu erinnern, dass es einfach nicht selbstverständlich ist. Wenn man selbst schon seit vielen Jahren vegan lebt und sich auch sonst ziemlich von den gesellschaftlichen Normen abgewandt hat, ist es oft ziemlich schwierig, noch mit Menschen zu connecten, die sich außerhalb der Bubble befinden. Privat findet das ja auch irgendwann immer seltener statt. Man hat irgendwann nur noch wenige bis keine Freund*innen oder Beziehungspartner*innen mehr, die den ethischen Veganismus nicht selbst verinnerlicht haben.
Wenn wir Gefahr laufen, nur noch Aktivismus für Veganer*innen zu machen, können wir ihn uns auch sparen. Anschlussfähig zu bleiben und den Menschen das Gefühl zu geben, willkommen zu sein, auch, wenn sie nicht vegan leben, ist elementar wichtig, wenn man mit einem Lebenshof guten Aktivismus machen möchte.
Wir sehen darin eine große Chance. Wenn uns zum Beispiel Kindergärten und Schulen und andere öffentliche und private Einrichtungen besuchen, haben wir die Möglichkeit, Menschen zu erreichen, die mit dem Thema Veganismus vielleicht noch nie in Berührung gekommen sind. Durch die sehr positiven Erfahrungen, die sie bei uns machen, wenn die Tiere auf sie zukommen, entstehen echte Verbindungen. Weil es keine schlimmen Bilder sind, die wir zeigen, machen die Menschen nicht so schnell zu.
Die Menschen kommen oft zu uns, weil sie sich denken "Da kann ich kostenlos mit meinen Kindern Tiere anschauen". Sie hinterfragen unsere Beweggründe nicht. Wir geben ihnen dann eine Hofführung und klären sie auch über unsere Motivation auf, die uns antreibt, das hier zu machen.
Anne: Hast Du dann insgesamt das Gefühl, dass wir mit Begegnungen mehr erreichen können, als mit Schockbildern?
Anna R.: Auf jeden Fall. Ich mache ja auch viel Straßenaktivismus. Ich habe immer das Gefühl, dass die Menschen auf diese Art viel offener sind. Vor allem darum, weil sie diese Distanz nicht aufbauen, dieses "Das will ich nicht sehen!" und "Das will ich nicht hören!" Die kommen einfach zu uns und freuen sich, wie schön das alles ist. Sie sehen das süße Schaf und das süße Schwein und wenn sie dann die Geschichte hören, dann geben sie zu, dass ihnen das alles so nicht bewusst war.
"Alle Aktivismusformen haben ihre Berechtigung"
Anna Ritzinger, Vegan Bullerbyn
Ich denke, dass es eine sehr sanfte und dennoch effektive Form von Aktivismus ist. Allerdings haben auch alle Aktivismusformen, die den Menschen, seine Sensibilität und die jeweilige Lebenssituation einbeziehen, ihre Berechtigung und sind gut und wichtig. Jeder Mensch braucht natürlich etwas anderes, um den Schritt gehen zu können. Deswegen unterstützen wir auch explizit Undercover-Recherchen von Animal Rebellion und anderen. Ich halte das für genauso wichtig, wie Straßenaktivismus mit Cubes, Outreach, Personen, die Bilder zeigen und Menschen in Gespräche verwickeln. Und natürlich, Menschen hier willkommen zu heißen. In all diesen Aktivismusformen liegt eine große Kraft.
Anne: Denkst Du auch, dass da Empathie eine große Rolle spielt? Ich glaube zum Beispiel, dass man relativ schnell erkennen muss, welchen Typ Mensch man vor sich hat, um individuell auf ihn einzugehen. Die eine Person erreiche ich vielleicht in einer Outreach-Aktion besser und direkter, während ich die andere lieber mit einer möglichst großen Menge an Informationen versorgen sollte. Die dann vielleicht auch erst mal angezweifelt werden und ich immer wieder nachhaken muss. Würdest Du Euch dann als Influencer*innen sehen? Ihr sorgt ja auch abseits vom Internet für Reichweite und macht den veganen Gedanken bekannter.
Anna R.: Ich denke, dass jeder, der darüber redet, diese Rolle einnimmt. Du weißt nie, was nach dem Gespräch passiert. Es nehmen immer beide Seiten etwas aus einem Gespräch mit. Wir nehmen automatisch Einfluss mit unseren Worten. Die große Chance, die wir haben, ist, dass wir halt nicht als einzelne Personen unterwegs sind, sondern, dass jede*r aus dem großen Kreis um uns herum, seien es Besucher*innen, Mitarbeiter*innen oder Praktikant*innen immer etwas mitnimmt und weiterträgt.
Und natürlich spielen auch Menschen, die viel im Internet teilen, eine große Rolle. Auf diesem Weg kommen auch immer viele Rückmeldungen rein. Die Leute bedanken sich für unsere Posts und schreiben, dass ihnen bestimmte Dinge so noch nicht bewusst waren. Sie fragen uns auch, ob sie etwas speichern oder reposten können, weil sie es gerne weitergeben möchten.
Alles, was wir tun, um die Welt zu verändern und gerechter zu machen, und gegen Unterdrückung und Ausbeutung stark macht, ist ein guter und richtiger Schritt. Nach unserem Verständnis ist der Veganismus eingebunden in alle anderen Gerechtigkeitsbewegungen. Ich kann nicht Tierrechtsaktivist*in sein und sagen, dass ich mich nicht für Politik, Klimaschutz und den Abbau von patriarchalen und kapitalistischen interessiere. Es ist unser Anspruch, vollständig bereit dafür zu sein, Dinge zu hinterfragen und unsere Werte, die wir für uns erarbeiten, zu definieren. Wo können wir als Verein, als Team, als Individuen etwas in den Menschen, denen wir begegnen anstoßen?
Ich bin auch überzeugt davon, dass selbst vegan lebende Menschen noch mal neuen Input mitnehmen und uns wiederum auch neuen geben können.
Anne: Du arbeitest ja auch in der Medienbranche und bist unter anderem auch als Model für Fair Model unterwegs. Würdest Du sagen, dass Dir Deine Arbeit in der Medienbranche Vorteile für Deinen Aktivismus bringt?
Anna R.: Wenn ich gelernte Landwirtin wäre oder Agrarökonomie studiert hätte, wäre das sicher von Vorteil. Der Medienjob hilft mir, insofern dass ich keine Unsicherheiten habe, wenn mich zum Beispiel jemand filmt oder ich wie hier im Interview aufgenommen werde. Vor 15 Jahren hätte ich mich vermutlich noch nicht in Stallklamotten in ein Interview gesetzt. Ich habe gelernt, dass es nicht davon abhängt, ob ich perfektes Make-up und frisch gewaschene Haare habe, ob Menschen etwas gut finden, das ich sage. Im Hinblick darauf hilft mir dieser Background sehr.
Anne: Lässt sich Dein Job gut mit Vegan Bullerbyn verbinden?
Anna R.: Auf jeden Fall. Für mich ist gerade das auch der Grund, warum ich bei Fair Model bin und nicht mehr bei anderen Agenturen.
"Ich konnte keine Werbung mehr für Lederschuhe machen"
Anna Ritzinger, Vegan Bullerbyn
Bevor ich Tierrechtsaktivistin wurde, war ich kommerzielles Model. Mir war sehr schnell klar, dass meine sich entwickelnde neue Lebenseinstellung nicht mit dem Job vereinbaren lassen würde. Ich habe zwar seit meinem dreizehnten Lebensjahr vegan gelebt und war vorher Vegetarierin, hatte aber bis dahin nie den Bogen gespannt und kannte auch keine anderen vegan lebenden Menschen in meinem Umfeld. Als ich dann Aktivistin wurde, wusste ich sofort, dass ich mein komplettes Leben verändern würde. Ich wollte nicht mehr, dass mein Gesicht über Lederschuhen abgebildet wurde. Ich möchte zum Beispiel auch nicht mehr viel fliegen, was ja in dem Job auch immer eine Rolle gespielt hat.
Ich habe dann einige Jahre wieder in meinem ursprünglichen Beruf als Sozialpädagogin gearbeitet und bin dann irgendwann über Fair Model wieder zurückgekommen in die Medienbranche. Ich finde es super, dass wir überall mit dem Zug anreisen können. Ich kann auch sagen, dass ich nur für vegane Brands arbeite und dann bekomme ich auch nur in diesem Bereich Angebote.
Wir haben sogar schon Shootings auf dem Hof gemacht und konnten sogar die Tiere einbeziehen. Für uns ist das natürlich tolle Werbung und wir können auf diesem Weg auch wieder andere Menschen erreichen, die sich nicht explizit einen Lebenshof auf Instagram gesucht haben, dem sie folgen können.
Anne: Ich finde es super, dass sich auch in diese Richtung immer mehr tut. Man sieht das ja regelmäßig bei etwas bekannteren Menschen, die sich zwar vegan ernähren, aber dann mit der Lederhandtasche vom Fashion-Label rumlaufen und Marken bewerben, die mit Veganismus nichts zu haben.
Anna R.: Es ist tatsächlich auch relativ schwierig, wenn man bei einer kommerziellen Modelagentur ist. Man muss dann tatsächlich einen anderen Weg einschlagen, wenn man sich dagegen entscheidet. Es geht ja auch um die persönliche Existenz. Früher als Model habe ich bestimmt das Zehnfache verdient und dieser Realität muss man sich stellen. Für mich bedeutet das nicht, dass ich damit hadere. Spätestens, wenn man mit den Tieren zusammenlebt, die Opfer dieses Systems waren und sind, weil ihre Körper davon gezeichnet sind, kann man das nicht mehr ignorieren.
Bei mir haben die ganzen Jahre, in denen ich Aktivismus mache und die Dinge, die ich in dieser Zeit gesehen und erlebt habe, noch mal vieles verändert. Weil ich das so tief verinnerlicht habe, ist es für mich keine Frage mehr, aber dennoch ist die gesamtgesellschaftliche Realität leider eine andere und ich dadurch auf viel verzichte, was mir auch wieder Möglichkeiten geben würde. Wenn ich mehr Geld zur Verfügung hätte, könnte ich auch in Richtung Aktivismus noch wirkungsvoller sein.
Vielleicht ist das die Erklärung dafür, warum man das manchmal bei Menschen sieht und das Gefühl bekommt, dass das nicht passt. Aber ich denke, auch, dass es dauert, bis man da für sich selbst den besten Weg gefunden hat. Ich bin auch daher ein großer Fan davon, erst mal mit den Menschen ins Gespräch zu gehen, vorausgesetzt, dass es auch gewünscht ist, bevor man sich von jemandem abwendet. Man sollte die Chance nutzen und vielleicht etwas anregen.
Anne: Vor allem können diese Menschen diesen Gedanken anschließend auch wieder weitertragen. Sprich, wenn Euch jetzt ein Star, der sich zwar vegan ernährt und einen Hund aus dem Tierschutz adoptiert hat, aber eine Designer-Tasche aus Leder bei sich hat, besucht, klärt Ihr ihn*sie auf und er*sie postet anschließend von der Erkenntnis darüber und von der Entscheidung, in Zukunft veganem Leder den Vorzug zu geben.
"Unser System ist von Ausbeutung geprägt"
Anna R.: Wir starten ja aus einem speziesistischen, karnistischen, kapitalistischen System und müssen alle Lebensbereiche nach und nach hinterfragen. Dabei ist es unglaublich schwer, alles zu überblicken und zu bedenken. Das ganze Leben ist von Ausbeutung geprägt und auf ihr aufgebaut. Sie fängt nicht bei Tieren an und hört nicht bei ihnen auf. Wenn man anfängt, sie zu hinterfragen, beginnt ein Prozess.
Ich glaube, es gibt keinen Menschen, der das von einem Tag auf den anderen alles komplett durchschaut. Nach meinem Gefühl hat man auch gar nicht die Möglichkeit, sich im Hinblick darauf jemals perfekt zu verhalten. Ich muss zum Beispiel eine Million Schulsachen für meine Kinder besorgen. Ich versuche dann natürlich, Recyclingpapier zu nehmen. Dann stehe ich aber vor dem Problem, ob ich es online bestellen oder lieber den lokalen Einzelhandel unterstützen soll. Was ist nachhaltiger und was ist ethisch richtig?
Man muss für sich seinen persönlichen Weg finden. Darum bin ich auch immer dankbar, wenn mich Menschen ansprechen und sagen "Hey, ich habe gerade gesehen, Du hast X Y gepostet und ich verstehe das nicht ganz, warum Du das machst. In meinen Augen ist das widersprüchlich. Können wir darüber reden?" Das ist auch etwas ganz anderes, als wenn Leute einfach kommentieren, dass sie etwas sche**e finden.
Anne: Ich habe im Laufe der Zeit zahlreiche weibliche Aktivistinnen kennengelernt, getroffen und teilweise auch interviewt. Dennoch habe ich immer wieder das Gefühl, dass gerade, wenn ich den Algorithmus einfach mal machen lasse und mir zum Beispiel von Instagram Profile anzeigen lasse, aber auch in den Medien generell, die männlichen Aktivisten mehr "Bühnenzeit" haben und stets im Vordergrund stehen. Geht es Dir auch so? Stimmt das? Wie erklärst Du Dir das?
"Meine Töchter lassen sich die vegane Butter nicht vom Brot nehmen!"
Anna Ritzinger, Vegan Bullerbyn
Anna R.: Ja, das ist auf jeden Fall so. Das liegt an unserem nach wie vor patriarchalen System und daran, wie gerade Mädchen, die jetzt Frauen sind, noch erzogen wurden. Ich sehe das auch an mir selbst. Frauen halten sich eher zurück, während Männer deutlich präsenter sind. Sie haben weniger Probleme damit – aufgrund ihrer Erziehung und Prägung – sich zu präsentieren. Jungs werden eher dazu erzogen, sich durchzusetzen und ihre Meinung zu behaupten, sich nach vorn zu kämpfen, während bei Mädchen leider immer noch die Werte Zurückhaltung, hübsch, leise, fügsam sein, sich um andere kümmern stark im Fokus stehen. Diese Unterschiede in der Erziehung sind gerade hier auf dem Land immer noch deutlich spürbar, während sich das in den eher urbaneren Umgebungen langsam auflöst. Dort wird es dann zum Beispiel auch gefördert, dass Mädchen auch mal laut sind oder ihren Raum einfordern und stolz auf sich sind.
Nach meinem Gefühl ist es einfach immer noch so, dass Frauen viel mehr das Gefühl haben, sich kleinzureden, wenn sie zum Beispiel ein Kompliment für eine Leistung bekommen. Männer hingegen bedanken sich hingegen selbstbewusst und erzählen noch, wie stolz sie auf sich sind.
Das alles hat definitiv auf einen großen Einfluss – gerade, wenn man bedenkt, dass nach wie vor viel mehr Frauen vegan leben als Männer, viel mehr Frauen Aktivismus betreiben und Lebenshöfe fast ausschließlich von Frauen betrieben oder mindestens von ihnen mitgeleitet werden.
Zum Glück ist auch Entwicklung spürbar. Wenn ich mir jetzt zum Beispiel meine Töchter anschaue: Die lassen sich nicht die vegane Butter vom Brot nehmen!
Ich denke, dass die Entwicklung ebenso Zeit braucht, wie die hin zu einer veganen Welt.
Anne: Wir sind beide Anfang 40. Findest Du, dass wir uns von den nachfolgenden Generationen etwas abschauen sollten?
Anna R.: Auf jeden Fall! Für uns ist das hier ein sehr wichtiger Aspekt! Ohne dieses intensive Zusammenleben mit jüngeren Menschen hätte ich zum Beispiel nie so etwas gesagt wie "Sch**ß doch darauf, ob ich mir die Beine rasiert habe!". Heute spielt das gar keine Rolle mehr in meinen Überlegungen, während ich vor 15 Jahren nicht ins Schwimmbad gegangen wäre, ohne mir an diesem Tag die Beine zu rasieren.
Anne: Auch in diesem Punkt ist ja auf jeden Fall Entwicklung spürbar. Ich denke zum Beispiel, dass wir den Generationen vor uns in diesem Punkt schon etwas voraus haben. Sprich: Das wir offen dafür sind, uns etwas von Menschen, die jünger sind als wir, abzuschauen. Wahrscheinlich ist auch alles irgendwo eine Frage der Perspektive und der Kommunikation. Um die geht es in Teilen auch wieder in meiner nächsten Frage.
Wie kommen Eure Tiere zu Euch?
Anna R.: Auf ganz unterschiedlichen Wegen. Wir bekommen sehr viele unterschiedliche Anfragen – hauptsächlich über unser Kontaktformular auf der Bullerbyn Webseite1, aber auch in persönlichen Gesprächen, über Tierrechtsorganisationen, mit denen wir vernetzt sind, über andere Lebenshöfe, über Instagram oder TikTok.
Bei uns leben Tiere, die aus der Industrie kommen und zum Beispiel aus Befreiungen stammen, wie zum Beispiel unsere Nutrias, die wir über Aninova2 aus einer Pelzfarm bekommen haben. Wir haben aber auch Schweine von Samara Eckhardt, die den Film "Hinter den Kulissen der Tierindustrie"3 gemacht hat. Wir haben auch Tiere, die früher bei Privatpersonen gelebt haben; und Tiere, die vom Veterinäramt beschlagnahmt wurden. Auch die Zusammenarbeit mit den Behörden ist für uns inzwischen ein großer Faktor geworden: Es gibt einige Veterinärämter, die uns immer kontaktieren, wenn sie Beschlagnahmungen haben. Auch, um die Tiere anschließend über uns vermitteln zu können.
An dieser Stelle möchte ich besonders eine Mitarbeiterin hervorheben, die auch in ihrer Freizeit immer alles versucht, dass die Tiere nicht getötet werden müssen. Über diesen Kontakt laufen viele Vermittlungen. Wir haben schon einige unserer Tiere auf diesem Weg übernommen.
Ganz groß ist auch ein Aspekt, der uns sehr stolz macht: Landwirt*innen, die sich direkt an uns wenden, weil sie zum Beispiel aus den unterschiedlichsten Gründen aufhören. Tatsächlich hatten wir auch schon dreimal Anfragen von Landwirt*innen, weil sie es nicht mehr mit ihrem Gewissen vereinbaren konnten. Für uns waren das Momente, die uns extrem berührt haben und an die wir uns immer wieder erinnern.
Ehemalige "Haustiere" zum Beispiel von Verstorbenen und Tiere aus dem Auslandstierschutz wie zum Beispiel unsere rumänischen Straßenhunde aus einem Shelter, das schließen musste und die nicht mehr vermittelbar waren.
Anne: Du meintest vorhin, bei Euch leben 130 Tiere. Anders als auf vielen anderen Lebenhöfen, sind es bei Euch ja die unterschiedlichsten Tierarten. Möchtest Du mir darüber noch etwas mehr erzählen?
Anna R.: Aktuell leben bei uns etwa 130 Tiere, das ist richtig. Außer Kühen beherbergen wir alle Tiere, die man sich auf einem Lebenshof vorstellen kann – darunter auch Kleintiere wie eine Gruppe Singvögel und ehemalige Käfigtiere. Wobei sich das wahrscheinlich auch bald ändern wird, einfach, weil wir jetzt die Möglichkeiten haben, welche aufzunehmen. Während wir vor unserem Umzug flächenmäßig vermutlich der kleinste Lebenshof Deutschlands waren, steht uns heute viel mehr Platz zur Verfügung.
Unseren Nutrias steht zum Beispiel ein knapp einen Hektar großes Biotop-Arial mit Teichen und Höhlen zur Verfügung, indem sie in ihrer natürlichen Umgebung leben können.
Anne: Wie schön, dass Ihr auch bald Kühe aufnehmen möchtet. Für mich war es auch einer der bewegendsten Momente, als ich auf Butenland die Kühe umarmen durfte. Das werde ich niemals vergessen und ich muss auch immer jedem*r erzählen, wie toll diese Tiere sind – anhänglich, kommunikativ und unterschiedlich von ihren Charakteren. Es wird wirklich Zeit, dass wir verstehen lernen, diese tollen sozialen Wesen besser zu verstehen.
Anna R.: Ja, das stimmt. Ich finde auch, wenn man bei einer optimierten "Milchkuh" – also zum Beispiel einer Holstein-Friesian – die nicht mehr permanent schwanger gehalten wird, das Euter sieht. Da wird einem der Unterschied bewusst zwischen einem natürlichen Euter – was ja ohnehin schon nicht mehr natürlich ist, weil wir von einer optimierten Kuh ausgehen – und einem Euter, wenn die Kühe Milch haben.
"Mit drei sah ich, wie ein Schwein geschlachtet wurde und wurde Vegetarierin"
Anna Ritzinger, Vegan Bullerbyn
Jede Frau, die mal gestillt hat, weiß, wie es sich anfühlt, wenn man einen Milchstau hat. Man muss doch sehen, wie schrecklich diese Tiere in der Industrie leiden.
Anne: Auf Eurer Webseite schreibst Du, dass Dir als Stadtkind nach und nach bewusst wurde, was hinter tierischen Lebensmitteln steckt und Du zum Beispiel schon mit drei Vegetariern wurdest. Wie kam es dazu?
Anna R.: Ich bin mit meiner Mutter aus der Stadt auf den Bauernhof zu meinem Adoptivvater gezogen und wurde dort bei der Hofschlachtung eines Schweins sehr direkt damit konfrontiert, wo das Fleisch und die Wurst herkommen. Für mich ist das meine erste bewusste Erinnerung. Ich stand in der Haustür, hinter mir stand mein Adoptivonkel und das Tier wurde aus dem Stall getrieben und dann auf dem Hof mit dem Bolzenschussgerät getötet.
Für mich war das ein traumatisierender und einprägsamer Moment. Dadurch, dass ich zu Tieren bis zu diesem Moment kaum einen Bezug hatte und eigentlich nur aus Bilderbüchern kannte, habe ich ganz tief in mir gespürt, dass das, was da vor meinen Augen passierte, falsch war. Für mich wäre es in diesem Moment kein Unterschied gewesen, wenn meine neue Oma anstelle des Schweins gestanden hätte. Ich habe absolut nicht verstanden, warum das gemacht wurde. Und bis zu diesem Zeitpunkt war mir auch nicht bewusst, dass ich das esse, wenn ich zum Beispiel Salami esse.
Anne: Abgepackte Wurst und Fleisch- und Wurstwaren im Supermarkt sind schon sehr weit entfernt vom Tier.
Denkst Du, dass das der Grund dafür ist, warum nach wie vor so wenig Menschen die Verbindung herstellen und sich für ein veganes Leben entscheiden? Die Anonymität beziehungsweise der lange Weg zwischen dem Tier im Stall und der steril verpackten Wurst im Discounter?
Anna R.: Ich glaube auch, dass Menschen Schwierigkeiten haben, das Tier und das Produkt miteinander in Beziehung zu stellen und die Realität verdrängen, dass Kühe nur Milch geben, wenn sie Mütter sind.
Ich spreche so oft mit erwachsenen Menschen, die sagen "Aber Kühe geben doch ohnehin Milch!". Ich frage mich, wie sie darauf kommen. Sie sind ebenso Säugetiere wie wir. Warum sollte der Stillvorgang bei einem anderen Säugetier so komplett anders sein als bei uns? Natürlich gehört dazu eine Schwangerschaft. Natürlich gehört dazu eine Geburt und auch Mutterliebe. Die Hormone, die ein Säugetier ausschüttet, um Muttermilch zu produzieren, werden nicht ohne Grund als Bindungshormone bezeichnet.
Das theoretische Wissen wäre vermutlich häufig da. Allerdings ist die Verdrängung so stark, dass die Leute einfach sagen "Kühe geben eh immer Milch" oder "Hühner legen eh immer Eier". Es passiert oft, dass wir beim Straßenaktivismus Leute ansprechen, die vorbeigehen, den Kopf schütteln und sagen "Deswegen bin ich Vegetarier*in".
Ich denke, dass die Menschen, wenn sie eine Packung Wurst oder Milch aus dem Kühlregal nehmen, erst mal das Tier nicht vor sich sehen und dann auch noch den Gedanken haben, dass sie persönlich ohnehin nichts ändern können und das ganz normal ist, dass man das zu sich nimmt. Oder dass sie die Produkte sogar für ihre Gesundheit brauchen. Die Rechtfertigungsstrategien sind sehr vielfältig.
Tipp: Lest hier wichtige Details über die Milchindustrie und den Weg von der Kuh zur Milch in der Packung.
Anne: Würdest Du dann auch sagen, dass darin einer der Hauptgründe für den allgegenwärtigen Speziesismus liegt – dass wir unsere Katze bei uns im Bett schlafen lassen und das Schwein wird anonym als Nummer im dunklen Transporter zum Schlachter gekarrt?
"Der Wert von Haustieren ist meist nicht höher, als der von Tieren in der Industrie"
Anna Ritzinger, Vegan Bullerbyn
Anna R.: Ich glaube, dass der Wert, den Menschen "Haustieren" geben, meist nicht höher als der von Tieren in der Industrie. Unser Problem als Menschen ist, dass wir alles Leben und unsere komplette Umwelt der Frage unterwerfen "Was kann er oder sie oder es für mich tun?". Alles wird an dem Wert bemessen, den er, sie oder es für uns hat.
Das Haustier hat zwar einen besonderen Wert und wir reden uns ein, dass wir es besonders lieben, letztlich muss es aber auch eine bestimmte Funktion erfüllen. Es ist da, damit jemand in der Wohnung ist, wenn wir nach Hause kommen. Wir müssen die Beziehung nicht in gleicher Weise pflegen wie die Beziehung mit einem anderen Menschen. Es ist auf uns angewiesen und wir bringen es, ohne zu wissen, was seine wahren Bedürfnisse sind, in die Situation, dafür da zu sein, unser Bedürfnis nach Nähe, Liebe und Gemeinsamkeit zu erfüllen.
Auf den ersten Blick wirkt das vielleicht wie Liebe, ist jedoch im Grunde nicht besser. Letzten Endes spielt es eine viel zu untergeordnete Rolle, wie sich das Tier fühlt, was seine tatsächlichen Bedürfnisse sind und ob wir diese erfüllen können.
Das Schwein im Schlachttransporter erfüllt den Nutzen, dass wir es essen können. Der Hund erfüllt den Nutzen, dass er unser bester Freund sein soll, der unsere Befehle befolgt und nicht gehen kann, wenn es ihm zu viel wird. Darin liegt das Grundproblem.
"Antispeziesist*innen sind wir erst, wenn wir keinen Nutzen mehr von Tieren erwarten"
Das ist doch die Beschreibung einer maximal toxischen Beziehung. Ich finde, wir können uns erst als Antispeziesist*innen bezeichnen, wenn wir Tiere nicht mehr dafür bewerten, was sie für uns tun können.
Anne: Glaubst Du auch, dass die Überzeugung, dass Tiere immer einen Nutzen erfüllen müssen, bei den Generationen unserer Eltern und Großeltern noch ausgeprägter war? Hat sich das verbessert oder tut sich in dieser Richtung eher nichts?
Anna R.: Ich glaube tatsächlich, dass sich das nichts ist, das sich gesellschaftlich automatisch verändern wird. Die Nutzungsansprüche verändern sich. Früher hatte man den Hofhund, damit er auf den Hof aufpasst und die Katze, damit sie die Mäuse jagt, damit sie nicht an das Futter für die "Nutztiere" gehen.
"Wir dürfen nicht aufhören, für Verbesserungen zu kämpfen"
Heute haben wir die Tiere zwar aus anderen Gründen, aber trotzdem haben wir sie immer noch für uns und sie haben für uns immer noch einen Nutzen. Die Katze zu halten, damit ich nicht alleine bin, ist vom Grundgedanken genauso schwierig.
In der Art und Weise und in den Argumentationswegen gibt es Veränderungen. Bis wir aber wirklich da sind, dass wir sagen, Tiere und Menschen – wobei Menschen natürlich auch Tiere sind – haben den gleichen Wert und das gleiche Recht auf Freiheit, Selbstbestimmung und Unversehrtheit, ist es noch ein langer Weg.
Ich glaube, dass wir davon genauso weit entfernt sind, wie vom Ausstieg aus dem kapitalistischen System der Besiegung des Patriarchats. Es werden sich natürlich immer weiter Dinge schrittweise verbessern und wir sollten nicht aufhören, dafür zu kämpfen, dass sie sich verändern. Es werden immer mehr Menschen anfangen, Ihr Handeln zu hinterfragen, aber gesamtgesellschaftlich habe ich da im Moment noch wenig Hoffnung. Vielleicht ändert uns die Welt schneller, als wir uns selbst verändern.
Anne: Das sieht man ja auch sehr gut daran, wie die Politik auf die aktuellen Klimaereignisse reagiert.
Anna R.: Es geschieht so schnell, dass wir uns nicht mehr aus eigener Motivation heraus verändern können.
Anne: Als Du Dein zweites Kind gestillt hast, wurdest Du vegan – aus den hier bereits besprochenen Gründen und weil Du gemerkt hast, dass es Euch beiden dadurch gesundheitlich wesentlich besser ging. Leben Deine Kinder dann heute alle vier vegan?
Anna R.: Ja!
Anne: Dann würdest Du es Eltern auch klar empfehlen, ihre Kinder ausgewogen vegan zu ernähren?
Anna R.: Zumindest aus ethischen Gründen gibt es dazu keine Alternative. Ich finde es auch absolut nicht sinnvoll, als ethisch vegan lebende Eltern seine Kinder aus Ängsten heraus nicht vegan zu ernähren.
Vegan zu leben ist ja nicht nur die Frage danach, ob es die gesündeste Ernährungsweise ist. Zwar ist meine Tochter zum Beispiel allergisch auf tierische Eiweiße und es ging ihr aus diesem Grund durch die vegane Ernährungsweise besser. Doch das ist nicht der Hauptgrund dafür, sich für ein veganes Leben zu entscheiden.
"Aktivismus und vegane Ernährung gehören fest zusammen"
Für mich lag dazwischen auch nur ein sehr kurzer Moment. Ich habe mich entschieden, vegan zu leben und noch in derselben Woche wurde ich auch zur Aktivistin. Das eine ist mit dem anderen für mich seitdem untrennbar miteinander verbunden. Für mich hat es den Auslöser gebraucht, um die ganzen Verdrängungsmechanismen endlich fallen zu lassen: "Du musst jetzt für Dein Kind vegan leben".
Ich habe mir dann die Frage gestellt: "Wie kannst Du hier sitzen und Dein Kind stillen und Joghurt aus Kuhmilch essen wollen, während einer anderen Mutter gerade ihr Kind genommen wird?"
Für mich war das eine intensive Phase des Entsetzens über mich selbst und wie ich das so lange mit meinem Gewissen vereinbaren konnte und der kompletten Lebensveränderung. Ich habe das Gefühl bekommen, dass ich dieses Bewusstsein unbedingt mit so vielen Menschen wie möglich teilen muss. Ich konnte von einem Tag auf den anderen über nichts anderes mehr reden und habe in der Folge mein Leben dann dem Aktivismus gewidmet.
Ich gebe meinen Kindern ja meine Werte und Überzeugungen mit und da wäre es für mich vollkommen widersprüchlich, zu sagen, dass ich zwar Tierrechtsaktivistin bin und aus ethischen Gründen vegan lebe, meine Kinder aber trotzdem tierische Produkte bekommen. Ich finde es auch wichtig, dass in diese Richtung weiter geforscht wird und mögliche Schwierigkeiten auch offen angesprochen werden. Dennoch ist es für mich keine Option, einfach weiter Tiere zu essen.
Anne: Wie hast Du das dann wahrgenommen, als Du zwischenzeitlich immer mal wieder in Deinen ursprünglichen Beruf als Sozialpädagogin gearbeitet hast?
Anna R.: Das ist tatsächlich ziemlich spannend. Während die vegan lebende Eltern, die ich kenne, bei ihren Kindern penibel darauf achten, dass sie alle relevanten und wichtigen Nährstoffe, Vitamine und Spurenelemente bekommen und ihre Ernährung möglichst ausgeglichen ist, habe ich mich schon häufig gewundert, was omnivor lebende Eltern ihren Kindern so alles in die Brotdose legen. Man bekommt als Veganer*in so viele Ängste eingeredet – von Kinderärzt*innen und allen möglichen Menschen, die es gut meinen – in Bezug auf irgendwelche Mängel. Niemand würde aber jemals fragen, warum ein Kind zum Beispiel nie Gemüse bekommt.
Anne: Stichwort Gemüse! Ihr baut ja auch Gemüse an und habt auch vor, es zu verkaufen. Möchtest Du mir mehr darüber erzählen?
Anna R.: Genau. Auf unserem alten Hof hatten wir nur einen kleinen fränkischen Bauerngarten mit Blumen außen und Gemüse- und Kräuterbeeten innen. Darin haben wir für uns selbst relativ bedarfsdeckend Gemüse angebaut.
Für unsere Tiere reichte es natürlich nicht aus. Um etwas gegen die Lebensmittelverschwendung zu tun, haben wir im Hinblick darauf schon immer viel mit gespendetem Gemüse gearbeitet.
Hier auf dem neuen Hof haben wir jetzt eine so tolle Möglichkeit, im größeren Stil bio-veganes Gemüse anzubauen. Auf diesem Weg können wir auch dieses Aktivismusfeld einbeziehen.
"Wir haben vor, bald bio-veganes Gemüse anzubieten"
Anna Ritzinger, Vegan Bullerbyn
Wir werden immer wieder mit der Behauptung konfrontiert, dass es eine vegane Welt gar nicht geben könnte, weil man auch den tierischen Dünger braucht. Da mit Leguminosen, Humusaufbau und anderen traditionellen Techniken zu zeigen, dass es auch anders geht und bio-veganer Anbau funktioniert, erscheint uns als passender Ansatzpunkt. Unsere Idee ist es auf der Basis von Market Gardening, ein kleines veganes Bistro und eine Gemüsekiste ins Leben zu rufen. Auf diese Art könnten wir auch noch mal mit ganz neuen Menschen ins Gespräch kommen.
Anne: Du betreibst konstant Aktivismus und kennst Dich sehr gut aus. Hast Du einen Tipp für meine Leser*innen, wie sie den Menschen in ihrem Umfeld die vegane Lebensweise noch schmackhafter machen können?
Anna R.: Das ist insgesamt sehr individuell, da jeder Mensch andere Fähigkeiten besitzt, mit denen er*sie Menschen begeistern kann. Manche Leute kochen und laden ihre Freunde ein, andere schließen sich Demos ein oder teilen Informationen im Internet. Ein Basic, das ich allen mitgeben kann, lautet:
"Als vegane Aktivist*innen sollten wir Menschen sein, mit denen sich andere Menschen gerne umgeben – unter Einbeziehung unserer Fähigkeiten, Fertigkeiten und individuellen Persönlichkeit."
Wenn zum Beispiel Menschen nach Vegan Bullerbyn kommen, sich mit den Menschen hier austauschen und sich bei uns wohlfühlen und das, was wir tun, auf irgendeine Art gut finden. Das muss im ersten Moment nicht der Tierrechtsaktivismus sein, sondern auch etwas ganz anderes, wie das Gemeinschaftliche, unsere alternative Beziehungsform oder der Gemüseanbau. Sobald man einen gemeinsamen Nenner findet, ergibt sich eine Chance, ohne erhobenen Zeigefinger etwas zu erreichen. Menschen sind grundsätzlich dazu bereit, sich weiterzuentwickeln und inspirieren zu lassen.
Wir sollten unsere Diskussionen bewusst wählen und uns nicht über Dinge zerreißen, die keine Rolle für unseren Aktivismus spielen. Damit schließen wir nur einzelne Personengruppen aus, die dann nicht mehr offen sind, sich zu verändern. Was immer im Fokus stehen sollte ist, dass wir gegen jede Art der Diskriminierung, Ausbeutung und Erniedrigung sind. Wie wir dem gemeinsamen Ziel näher kommen, müssen wir individuell entscheiden. Wir müssen uns darauf einigen, dass alle Tiere Rechte haben und so gut wie möglich mit ihnen zusammenleben und ihnen ihr Recht auf ein unversehrtes Leben zugestehen.
Anne: Kann man Euch immer besuchen oder sollte man vorher Kontakt mit Euch aufnehmen?
Anna R.: Grundsätzlich kann man uns jederzeit besuchen. Es passiert auch immer wieder, dass Menschen plötzlich vor der Tür stehen und meistens funktioniert das dann auch. Wir haben auf unserer Seite aber auch ein Kontaktformular, in das man reinschreiben kann, wann man vorhat, uns zu besuchen. Da könnte man dann auch Infos mit reinschreiben, also zum Beispiel, ob man bestimmte Bedürfnisse hat, schon vegan lebt oder ob man sich gerne über ein bestimmtes Thema unterhalten möchte. Dann können wir uns entsprechend vorbereiten.
Anne: Dann könnte man Euch auch so was schreiben, dass man einen Hund dabeihat? Oder sollte man Hunde generell lieber nicht mitbringen?
Anna R.: Hunde sind bei uns herzlich willkommen. Wir haben sogar einen abgetrennten Bereich, in dem keine Tiere herumlaufen, in dem sie sich aufhalten könnten und in dem sie etwas zu trinken finden. Es wäre auch nicht im Sinne unseres Konzepts, sie für die Dauer des Aufenthalts irgendwo abgeben zu müssen. Je nachdem, wie der Hund sozialisiert ist, kann er dann auch mit nach hinten kommen. Bei uns auf dem Hof leben auch Hunde und die Tiere leben in friedlicher Koexistenz miteinander. Einige der Hunde haben es sich zum Beispiel zur Aufgabe gemacht, unsere Hühner zu beschützen, was einen hohen Schutzfaktor für diese Tiere bedeutet und sehr schön ist.
Das bedeutet auch, dass unsere Hühner keine Angst vor Hunden haben. Der Schutz der Tiere steht natürlich im Vordergrund. Daher gibt es den abgetrennten Bereich. Grundsätzlich gibt es jedoch die Möglichkeit und wir hatten unter anderem auch schon Praktikant*innen, die ihren Hund mitgebracht haben.
Anne: Können Interessierte auch ihren Urlaub bei Euch verbringen und in dieser Zeit bei Euch auf dem Hof arbeiten?
"Wir freuen uns immer über neue Vereinsmitglieder"
Anna Ritzinger, Vegan Bullerbyn
Anna R.: Sehr gerne sogar. Gegenwärtig können wir halt keinen Luxus bieten. Wir haben einen Sanitär-Container, der von allen genutzt wird. Jede*r ist mitverantwortlich dafür, dass alles sauber bleibt. Aber man kann jederzeit mit uns zusammen kochen und essen oder sich selbst versorgen und es gibt Kochmöglichkeiten. Man darf sich nur nicht vorstellen, dass man in ein Hotel fährt. Aber wer mit seinem Zelt oder Campervan kommt, ist natürlich immer herzlich willkommen. Wir betonen auch immer, dass unser komplettes Angebot kostenfrei ist. Uns ist wichtig, dass es nicht passieren kann, dass Menschen nicht von unserem Aktivismus erreicht werden, weil sie es sich nicht leisten können, zu uns zu kommen.
Anne: Wie kann man Euch sonst noch unterstützen?
Anna R.: Als gemeinnütziger Verein können wir Spenden4 entgegennehmen und es gibt natürlich Tierpatenschaften. Ab fünf Euro im Monat kann man Vereinsmitglied5 werden. Die Mitgliedschaft ist bei uns jederzeit kündbar und kann auf Anfrage auch gerne pausiert werden. Derzeit haben wir rund 600 Unterstützer*innen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und sogar aus Indien und den USA. Natürlich freuen wir uns auch immer darüber, wenn die Menschen unsere Postings teilen oder darüber berichten, wenn sie uns besuchen oder sich mit uns unterhalten haben.
Anne: Du kannst Dir sicher sein, dass ich allen von unserem Gespräch erzählen werde! Es hat mich sehr gefreut, Dich kennenzulernen! Vielen Dank für die spannende Unterhaltung. Du hast mich sehr inspiriert und auch dazu motiviert, weiterzumachen. Und wenn es dadurch nur ein paar Tieren besser geht – es lohnt sich! Danke, liebe Anna!
Anna R.: Die Freude ist ganz meinerseits! Ich danke Dir. Es hat mir Spaß gemacht!
Bilder: Vegan Bullerbyn