lyra messier über ihr neues Album
"Ich war noch nie so glücklich"
Als ich Lyra online vor drei Jahren zum ersten Mal online begegnete, verfiel ich sofort ihrer Musik und ihrer schier endlosen, sprühenden Kreativität. Inzwischen ist aus unserer Bekanntschaft eine Freundschaft geworden und wir teilen mehr als nur unseren Musikgeschmack. Weil sie gerade ihr neues Album fertiggestellt hat, haben wir uns wieder zu einem Interview verabredet. Ich lege Euch hiermit ans Herz, es zu lesen und sie und ihre Musik noch besser kennenzulernen.
Ihr könnt Euch auf diese wunderbaren neun neuen Songs freuen. Das Album erscheint am 10. November. Den siebten Song auf der Platte hat Lyra heute bereits vorveröffentlicht. Er heißt "Sevastopol" und ist von dem grausamen Angriffskrieg inspiriert, den Russland gegen Ukraine führt. Hör ihn Euch an, Ihr findet ihn weiter unten. Und jetzt: viel Freude mit dem Interview!
Anne: Hallo Lyra. Danke, dass Du Dir die Zeit für das Interview nimmst. Es ist so schön, mal wieder mit Dir zu plaudern! Wie geht es Dir zurzeit?
Lyra: Es geht mir ziemlich gut! Ich bin sehr aufgeregt, endlich wieder etwas in voller Länge zu veröffentlichen. Und ja, ich freue mich auch über den Austausch!
Anne: Die Zeit vergeht wie im Flug! Seit unserem letzten Interview sind schon drei (!) Jahre vergangen! Was hat sich seitdem für Dich verändert?
"Ich habe wunderbare Menschen kennengelernt"
lyra messier – "Sevastopol"
Lyra: Pffhhh wow ja. Ich werde in ein paar Tagen auch 23. Die letzten paar Jahre waren aus offensichtlichen Gründen für jeden verdammt seltsam, also glaube ich nicht, dass wir die Einzigen mit einem schrecklichen Zeitgefühl sind.
Was die Veränderungen angeht, so hat sich vor allem in meinem Privatleben viel getan. Als ich das letzte Album aufnahm, war ich in keiner guten Verfassung, und das spitzte sich im Jahr 2021 zu. Zum Glück habe ich mir Hilfe geholt, und ich kann ehrlich sagen, dass ich noch nie so glücklich und stabil war wie jetzt. Ich habe es geschafft, mich mit wunderbaren Menschen zu umgeben, und ich habe mir eine Art positiv nihilistische Denkweise angeeignet, die dazu führt, dass ich jeden Tag impulsiv das tue, worauf ich wirklich Lust habe. Das bedeutet auch, dass ich mich jeden Monat fast selbst in den Ruin treibe, weil ich mein ganzes Geld für Konzertkarten ausgebe, aber hey, für mich funktioniert es!
Anne: Du hast gerade Dein neues Album fertiggestellt. Du hast es als "Trance-Rock" beschrieben, und ich denke, das ist der perfekte Begriff! Ich habe mir die neun Songs bereits angehört, und sie sind eine tolle Mischung aus allem, was ich an elektronischer und analoger Musik liebe. Es klingt wie ein Querschnitt durch die Musikgeschichte, von der Techno- und Grunge-Ära der 1990er Jahre bis hin zu unserer Post-Music-Zeit. Ich liebe es — auch Deine geschickte Art, düstere Parts (und Themen) mit hoffnungsvoll klingenden, leichteren zu kombinieren. Bist Du mit dem Ergebnis Deiner Arbeit zufrieden?
Lyra: Ich nenne es erst seit Kurzem "Trance-Rock", aber ja, ich denke auch, dass es den Großteil meiner Musik ziemlich gut zusammenfasst. Ich bin damit aufgewachsen, viele Rockbands zu hören, aber auch repetitive elektronische Musik wie Trance und House, und viele der Songstrukturen, die ich bevorzuge, sind eher von dieser elektronischen Seite inspiriert. Ich liebe lange, hypnotische Songs, die eine Weile brauchen, um sich aufzubauen, und die einen wirklich in den Bann ziehen.
Und ja, ich bin sehr zufrieden mit der Platte! Ich glaube, ich habe mich als Produzent wirklich weiterentwickelt und viele neue Ansätze für das Songwriting und die Klanggestaltung ausprobiert. Man kann immer noch deutlich erkennen, dass es sich um eine lyra messier Platte handelt, aber die einzelnen Songs sind viel vielfältiger.
Anne: Wie heißt das Album und was hat Dich zu dem Namen inspiriert?
Lyra: Wie das letzte Album hat es keinen Titel. Das fing damit an, dass es mir sehr schwerfiel, einen Titel für die letzte Platte zu finden, die ich über einen sehr langen Zeitraum in vielen verschiedenen Zusammenhängen konzipiert hatte. Ich war der Meinung, dass es keine Worte gibt, die all die darauf enthaltenen Songs wirklich beschreiben könnten, also habe ich darauf verzichtet, der Platte einen Namen zu geben.
Bei dieser Platte habe ich jedoch bewusst entschieden, sie wieder ohne Titel zu lassen, vor allem, um mich selbst zu ärgern (lacht). Es ist zum Teil von all den verschiedenen Weezer Platten inspiriert, die einfach "Weezer" heißen, so, dass sich das Publikum seine eigene Beschreibung ausdenken muss — in ihrem Fall bezeichnen die Leute die Alben nach Farben. Ich denke, es wird lustig, zu hören, wie alle es anders nennen. Es könnte das Amsterdam-Album sein (weil wir das Foto auf dem Cover in Amsterdam aufgenommen haben), das 2023-Album, das Album, das mit "Frighten" anfängt, und so weiter. Verstehst Du, was ich meine?
Anne: Das ergibt absolut Sinn, und ich liebe die Idee, dass jeder Dein Album individuell und persönlich benennt! Du hast einige der Songs nach ukrainischen Städten wie Charkiw und Sewastopol benannt, und es gibt auch einen Song namens "M52". Ist der Krieg das Grundthema des Albums?
"Ich habe 'Sevastopol' 2017 oder 18 geschrieben"
Lyra: Der Krieg in der Ukraine ist sicherlich ein wichtiges Thema, das mich bei dem Album inspiriert hat. Ich habe den Song "Sewastopol" 2017 oder 18 geschrieben — ich bin mir jetzt nicht ganz sicher, aber es ist schon sehr lange her. Damals beschränkte sich der Konflikt noch auf die Krim und den Osten beschränkt, aber ich habe schon viel darüber nachgedacht. Ich bin gleichzeitig angewidert und auf eine kranke Art fasziniert davon, wie ein Diktator wie Putin seine Propaganda als Waffe einsetzen kann. Er hat es geschafft, die russischen Soldat*innen, davon zu überzeugen, dass die Invasion eines anderen Landes eine gute Sache ist — obwohl es für jeden, der sich nicht in dieser Kommunikationsblase befindet, so offensichtlich ist, dass es eine schreiende Ungerechtigkeit ist. Nach der Eskalation des Krieges im Jahr 2022 wurde der Song natürlich viel aktueller; außerdem habe ich seitdem viele nette Ukrainer*innen kennengelernt — einige von ihnen durch eine unglaubliche ukrainische Band namens Go_A, die ich auf Tournee begleitet habe. Es hat sich produktiv angefühlt, einen Teil meiner Wut in Musik zu kanalisieren, weil ich mich sonst als jemand, der auf der anderen Seite Europas lebt, sehr hilflos gefühlt habe.
Im Großen und Ganzen hat das Grundthema des Albums aber wohl einfach sehr viel mit den Leuten zu tun, die mich nerven. Die Stücke "Frighten" und "M52" handeln beide von einer Ex. Wir verstehen uns jetzt eigentlich sehr gut (und erfüllen damit wirklich das lesbische Klischee) — sie hat sogar die Songs gehört (lacht). Aber als ich sie geschrieben habe, war ich einfach stinksauer und brauchte ein Ventil. Der Name "M52" ist eigentlich eine Anspielung auf eine U-Bahn-Linie in Amsterdam, wo sie lebt.
Bei "Helixx" geht es hingegen um Menschen wie J.K. Rowling. Sie scheint zu glauben, dass sie sich durch das Schreiben erfolgreicher Bücher das Recht verdient hat, eine Autorität in Bezug auf ein völlig verwandtes Thema zu sein, nämlich die Geschlechtsidentität der Menschen. Diese Frau ist mir nie begegnet und wird es wahrscheinlich auch nie tun, aber sie denkt, sie kennt mich besser, als ich sie kenne? Ich würde das lustig finden, wenn da nicht die ganze damit verbundene konservative Angstmacherei wäre, die den Zugang zu medizinischer Versorgung für Transpersonen zurückzudrängen droht oder in einigen Ländern bereits getan hat.
Anne: Was JKR tut, ist so falsch. Ich kann Ihr Verhalten nicht aushalten — es ist so ekelhaft. Sie hat absolut keine Ahnung, was sie da tut. Sie hat so eine riesige und beängstigende Reichweite und schadet mit ihrem Unsinn und ihrer unmöglichen Art aktiv Menschen. Ich kann absolut nicht verstehen, wie sie nach wie vor so viele Fans haben kann.
Lass uns das Thema wieder wechseln und über Deine wunderbare Musik sprechen. Auf Deinem Album gibt auch einen Song über eine fleischfressende Blume — die Sarracenia, um genau zu sein. Willst Du mir mehr darüber erzählen?
Lyra: Die Erklärung dafür ist viel weniger tiefgründig: Mein Freund James hat mir diesen Titel geschenkt! Er ist einer meiner vielen Freund*innen in England, von denen ich die meisten durch Jo von der Band 31hours kennengelernt habe, der auch der Gitarrist auf dieser Platte ist. Ich erwähnte in einem Gruppenchat mit den beiden, dass ich diesen Song fertig hatte und nicht wusste, wie ich ihn nennen sollte. James ist ein ziemlicher Pflanzenfreak, also kam ihm das sofort in den Sinn! Das Stück hat keine tiefere Bedeutung und ist nur eine coole kleine Sache, die ich mir am Klavier ausgedacht habe, aber ich denke, der Name passt dennoch gut.
Anne: Mir gefallen besonders die Klavierparts. Du hast mir erzählt, dass Du mit sieben Jahren angefangen hast, Klavierunterricht zu nehmen. Würdest Du sagen, dass es schon immer Dein Lieblingsinstrument war?
"Ich liebe Prog-Rock-Instrumente"
Lyra: Um ganz ehrlich zu sein, bin ich mir nicht einmal sicher, warum ich mich als Kind für das Klavier entschieden habe, aber ich spiele es immer noch sehr gerne! Als Rockmusik-Fan, der ich bin, liebe ich auch die Gitarre, aber ich habe nie versucht, sie zu lernen. Das würde ich gerne irgendwann in der Zukunft tun, aber das ist eine große Verpflichtung, für die ich mich bisher nicht wirklich bereit fühle.
Ich schätze auch einige klassische Prog-Rock-Instrumente wie Hammered Dulcimer und Mellotron sehr. Vor allem letzteres verwende ich auf diesem Album häufig, um coole Texturen zu erzeugen.
Anne: Ist das Deine wunderschöne Stimme, die wir in Stücken wie "Frighten" und "M52" hören? Ich liebe sie so sehr — auf Englisch und Niederländisch, als Gesang und gesprochene Worte! Das ist eine ganz wunderbare Ergänzung zu Deiner Musik!
Lyra: Das bin tatsächlich ich, ja! Meine Stimme ist tiefer als der Marianengraben. Früher habe ich nie gesungen, vor allem, weil ich verdammt unsicher war, wie ich klingen würde, und ich habe wirklich versucht, meine Transidentität vor allen zu verbergen, die es nicht wissen müssen. Um ehrlich zu sein, war die letzte Platte auch sehr stark als Instrumentalplatte konzipiert. Aber als ich "Sevastopol" endlich aufgenommen hatte, nachdem ich es vier Jahre lang vor mir hergeschoben hatte, war ich viel zufriedener mit meiner Leistung, als ich erwartet hatte. Das gab mir schließlich das Selbstvertrauen, ein paar weitere gesangzentrierte Songs zu schreiben. Ich denke, das Ergebnis zeigt eine coole neue Seite von mir!
Anne: Ich wünsche mir mehr davon! Mach unbedingt weiter damit!
Eine der wichtigsten Gemeinsamkeiten, die wir haben, ist unser Musikgeschmack und auch einige Lieblingsbands. Wir waren beide vor ein paar Tagen bei der legendären 65daysofstatic "10 years of 'Wild Light'" Show und für uns beide war es das Konzert des Jahres. Wenn man Deine Musik hört, merkt man, dass Die Band einer Deiner größten Einflüsse ist. Gibt es noch weitere Künstler*innen, die Du gerne erwähnen würdest, die Dich bei diesem Album und Deiner musikalischen Reise bis zu diesem Punkt beeinflusst haben?
Lyra: Oh ja, diese Shows waren absolut unglaublich. Und ich sage "Shows" im Plural, denn ich war auf vier davon (lacht). Wie Du schon sagtest: 65daysofstatic zählen zu meinen größten Einflüssen — Du bist nicht die Erste, die mir sagt, wie offensichtlich das ist, und ich bin froh, das zu hören, denn ein Großteil meiner Musik ist im Grunde ein Liebesbrief an die Band!
Steven Wilson ist ein weiterer großer Einfluss für mich. Ich habe ihn mit Porcupine Tree auf ihrer letzten Tournee begleitet und bin auch ein großer Fan seiner Soloarbeit. Generell stehe ich in letzter Zeit mehr und mehr auf Prog-Rock und Metal. "Frighten" hat auch viel mit Lunatic Soul zu tun, dem faszinierenden Soloprojekt von Mariusz Duda von Riverside.
Was die elektronischere Seite angeht, so bin ich in den vergangenen Jahren ein großer Fan von Bob Moses geworden! Ich finde die Art und Weise, wie sie House-Rhythmen mit Pop-Hooks kombinieren, absolut verblüffend.
Anne: Das ist übrigens ein ziemlich guter Tipp für meine Leser*innen zwinker!
Du planst, Dein Album am 10. November zu veröffentlichen, oder? "Sevastopol" ist ja heute schon erschienen! Ich freue mich!
"Ich habe schon das nächste Album fertig!"
Lyra: Das ist der Plan! Ich denke, "Sevastopol" ist wahrscheinlich der zugänglichste Track auf dem Album, also fand ich es sinnvoll, ihn als Vorab-Single zu veröffentlichen. "M52" wird etwa eine Woche vor dem Album erscheinen, vor allem weil ich denke, dass er ziemlich eingängig ist, obwohl seine fast zehnminütige Spielzeit vielleicht auch einige potenzielle Hörer*innen abschrecken wird (lacht).
Anne: Die Leute müssen endlich anfangen, längere Stücke zu hören. Ihnen entgeht so viel!
Hast Du schon konkrete Pläne für nach Deiner anstehenden Veröffentlichung?
Lyra: Ich habe eigentlich noch ein ganzes Album, das nahezu fertig ist! Alles ist aufgenommen, und ich bin gerade dabei, die letzten Gitarrenparts abzumischen. Es basiert komplett auf dem Album "Von" von Sigur Rós, einem weiteren großen Einfluss für mich. Wobei ich einige Songs ziemlich direkt gecovert habe und andere nur ein paar Akkorde oder einige textliche Entscheidungen gemeinsam haben. Es ist ein Werk der Liebe, und ich glaube nicht, dass ich danach noch lange mit der Veröffentlichung warten kann! Ich würde damit mal auf Anfang 2024 tippen!
Anne: Vielen Dank für Deine Antworten, Lyra! Es ist mir immer eine Freude, mit Dir zu sprechen!
Lyra: Das ist es! Sag mir Bescheid, wenn Du mal in Belgien oder den Niederlanden bist. Wir sollten unbedingt mal zusammen essen gehen!
Anne: Auf jeden Fall! Ich hoffe, ich schaffe es nächstes Jahr zum Dunk!festival!