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    Kerretta Drummer H. Walker über das neue Album "Angelm"

    "Wir sollten alle freundlicher miteinander umgehen!"

    Interview von Anne
    17.10.2024 — Lesezeit: 8 min
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    Kerretta Drummer H. Walker über das neue Album "Angelm"
    Bild/Picture: © Kerretta

    Kerretta haben ihr neues Album "Angelm" fertig – es erscheint am Freitag, 18. Oktober 2024. Drummer H. Walker hat meiner Interviewanfrage zugestimmt und ich habe ihn alles gefragt, was ich über die Meilenstein-Platte wissen wollte. Wir haben uns auch über den Kreativprozess der Band, ihre Einflüsse und Neuseeland unterhalten.

    Anne: Hi! Danke, dass Du Dir die Zeit für das Interview nimmst. Wie geht es Dir im Moment?

    H. Walker: Hi Anne! Mir geht es super, danke Dir! Danke, dass Du Dir die Zeit für das Gespräch mit mir nimmst.

    Anne: Gratulation zum neuen Album "Angelm". Es ist so wunderbar, endlich Euer viertes Studioalbum komplett zu hören! Was hat Euch zu diesen acht Songs inspiriert?

    H. Walker: Danke Dir!

    Thank you! Es hat eine Weile gedauert, bis wir so weit waren, dass wir neue Musik schreiben konnten. Wir leben in verschiedenen Teilen der Welt, sodass sich einige Dinge erst einspielen mussten. Dieses Mal begannen wir mit einer Grundidee und einem Konzept und schrieben auf dieser Grundlage. Normalerweise sammeln wir Ideen während der Proben, aber dieses Mal wollten wir, dass es mehr wie eine Geschichte mit Abschnitten ist.

    Anne: Viele Eurer Songs erzählen Geschichten mit Sounds statt mit Worten. Welche Geschichte erzählt "Angelm"?

    H. Walker: Unsere ursprüngliche Idee war es, acht Teile zu haben, die lose auf den acht Kontinentalplatten basieren. Es gibt ja diese neue Kontinentalplatte, die Wissenschaftler*innen zu ihren Entdeckungen zählen.

    "Wir haben angefangen, die Songs zu schreiben, als die Menschen in Quarantäne waren"

    Kerretta – "Angelm"
    Kerretta – "Angelm"

    H. Walker: Als wir mit dem Schreiben anfingen, war das während der Zeit der Abriegelungen und Trennung der Menschen voneinander. Die Menschen lebten also in dieser Existenz der Trennung. Wir hatten dieses Konzept der Fragmentierung, aber auch eine natürliche Anziehungskraft für eine Form des Zusammenwachsens.

    Wir dachten, es wäre eine lustige Idee, das auf etwas Greifbares anzuwenden, das sich Ideen für die Platte rund um die Kontinentalplatten der Erde bilden würden.

    Es gibt wissenschaftliche Beweise, die darauf hindeuten, dass es jetzt acht Kontinente gibt. Zu ihnen zählt auch Riu-a-Māui, das allgemein als Zealandia bezeichnet wird. Wir hatten also Skizzen mit Ideen, die von diesen Kontinentalplatten stammen. Wir wandten die Idee an, Noten, rhythmische Strukturen oder sogar Klänge von allen von ihnen zu verwenden.

    Wir haben keine strikten Regeln angewandt, sondern so getan, als würde man flüchtige Klangmomente erleben, während man den Globus über seine Kontinentalplatten hinweg erkundet. Daraus haben wir Ideen gewonnen, die wir dann vertont haben. Sie haben sich organisch zu einer interessanten Reise oder einer Art Leitfaden entwickelt.

    Anne: Eure Musik ist komplex, gespickt mit verspielten Rhythmen und dynamischen Wechseln. Wie geht Ihr als Band an das Songwriting heran? Ist es ein gemeinschaftlicher Prozess, oder übernimmt jemand die Führung?

    H. Walker: Das ändert sich manchmal je nach Track. Oft beginnen wir mit etwas Rhythmischem als Basis – das muss nicht unbedingt das Schlagzeug sein. Es kann ein rhythmisches Gitarren- oder Bass-Pattern oder ein Effekt-Arrangement sein, das aus Effekten besteht. Das wiederum führt zu etwas, das mehr auf einer Melodie basiert. Von da aus arbeiten wir es weiter aus.

    Anne: Die Songs auf "Angelm" vermitteln erneut ein Gefühl von Raum und Transzendenz – ganz im Stil von "Vilayer" von 2009 und "Saansilo" von 2011. Habt Ihr sie absichtlich mit dieser speziellen Atmosphäre im Hinterkopf entwickelt, oder haben sie sich beim Spielen ganz natürlich in diese Richtung entwickelt?

    "In 'Angelm' steckt eine gesunde Menge Spontanität"

    H. Walker: "Angelm" ist eine Mischung aus Absicht und einer gesunden Portion Spontaneität. Wir haben das Album so angelegt, dass sich eine gesunde Dynamik im Verlauf der einzelnen Tracks und dann wieder über die gesamte Platte hinweg ergibt. Wir haben viel auf Papier geschrieben, um jeden Track in Teile mit bestimmten Ideen, Atmosphären oder Stimmungen einzuteilen, damit sich die Songs in einer linearen Richtung richtig anfühle.

    Die Dynamik spielt eine wichtige Rolle bei dem, was wir tun, also versuchen wir sicherzustellen, dass die Berge hoch und die Täler tief sind und die Reise zwischen beiden möglichst anregend anfühlt.

    Anne: Touren sind ein wichtiger Teil des Bandlebens. Ihr habt in vielen Ländern gespielt und die Bühnen mit allen möglichen Künstler*innen geteilt. Habt Ihr eine Lieblingsstadt oder eine Lieblings-Location für Eure Auftritte? Wenn ja, welche ist es und mit welcher Band würdet Ihr an diesem Ort wieder spielen wollen?

    H. Walker: Das ist eine ziemlich heiße Frage. Sie zu beantworten, könnte mich in Schwierigkeiten bringen! Wir lieben es natürlich, in Aotearoa/Neuseeland zu spielen. Es gibt kein Land, in dem es uns nicht gefallen hat. Alle haben etwas, das sie unvergesslich macht. Und natürlich sind es immer die Menschen, die Orte zu etwas Besonderem machen. Ich kann das gar nicht genug betonen. Es ist immer wieder wundervoll für uns, zu sehen, dass Menschen in fernen Ländern Raum und Möglichkeiten für unsere Auftritte schaffen. Aber Du möchtest natürlich eine konkretere Antwort haben. Also, los geht's: Polen, Ihr habt einen großartigen Sound! Deutschland, Ihr habt ein gut durchdachtes Transportsystem, das es Bands erleichtert, aufzutreten und eine großartige Musikgemeinde! Kleinere bevölkerungsreiche Länder wie die Slowakei und Slowenien waren immer großzügig mit Geschichten. Frankreich ist immer besonders gastfreundlich. Wahrscheinlich habe ich jetzt jemanden beleidigt, weil ich viele nicht erwähnt habe, aber sie sind alle großartig.

    Anne: Die Cover Eurer Alben sind immer auffällig und geheimnisvoll. Wie wichtig ist der visuelle Aspekt Eurer Musik für Euch? Arbeitet Ihr eng mit den Künstler*innen zusammen, die Eure Artworks gestalten?

    "Wir haben ein geheimes Bandmitglied!"

    H. Walker: Danke schön! Unser heimliches Mitglied ist unser Designer Michael Chalberg. Wir hatten schon immer das Glück, dass er visuelle Kunst für uns geschaffen hat. Er hat diese großartigen Ideen und ist außerdem in der Lage, unsere Konzepte in ein visuelles Format zu integrieren.

    Anne: Ihr seid jetzt schon eine ganze Weile Teil der Post-Musik-Szene unterwegs, spielt Eure Rolle und inspiriert aufstrebende, neue Bands. Was würdest Du sagen, hat sich seit Euren Anfängen verändert – im Positiven wie im Negativen, für Euch als Band und ganz allgemein?

    H. Walker: Der positive Aspekt ist, dass die Beziehung zwischen Künstlerinnen und Publikum direkter sein kann. Damit meine ich, dass man als Publikum leichter Zugang zur Musik hat, solange man einen Internetzugang hat. Es ist alles dezentraler als die alten, von Unternehmen kontrollierten Label-Institutionen, die so viele Schlüssel besaßen. Man könnte sagen, dass es jetzt andere Gatekeeper gibt. Das wäre an sich auch richtig, aber ich denke, dass es jetzt einige andere Wege gibt, die die Künstlerinnen umgehen können und die das Publikum im Gegenzug direkt unterstützen kann. Was aber gleich geblieben ist, ist, dass Live-Musik die Menschen zusammenbringt. Wir sind zum Beispiel immer am Merch-Stand, um Fragen zu beantworten oder auch mal ein T-Shirt zu signieren.

    Anne: Die Produktionsqualität von "Angelm" ist hervorragend. Man kann jedes Instrument ganz klar heraushören und sie fühlen sich alle sehr präsent an, wenn sie an der Reihe sind. Kannst Du mir etwas über Euren Aufnahmeprozess erzählen? Wo habt Ihr das Album aufgenommen und wie habt Ihr es geschafft, diesen unverwechselbaren Sound zu kreieren?

    "Wir haben eine Menge 80er-Jahre-Equipment verwendet"

    Kerretta
    Kerretta

    H. Walker: Ich danke Dir! Wir haben sehr lange dafür gebraucht. Wir haben es zwischen Auckland und London, UK, aufgenommen. Unsere letzte Studio-LP Pirohia haben wir in einem großen Schlagzeugraum aufgenommen. Dieses Mal haben wir uns für etwas kleinere Räume entschieden, die größtenteils etwas enger im Klang sind. Wenn wir einen größeren Raumsound mit extravagantem Hall wollten, öffneten wir die Türen des Live-Raums und statteten die Treppenhäuser mit Mikros aus, um den Hall zu verstärken. Wenn es darum ging, mehrspuriges Material aufzunehmen, nutzen wir das Studio selbst als Werkzeug. Dabei haben wir viel Outboard-Equipment wie Tape-Delays und seltsame Modulationsgeräte aus den 80er Jahren eingesetzt. Unser Gitarrist Dave nahm zum Beispiel eine Gitarre auf, und ich spielte mit der Band. Manchmal haben wir auch alternative Gitarrenstimmungen verwendet, und auch einige Gäste dazu geholt. Im Stück "Pan Ultima" kannst Du zum Beispiel Aufnahmen aus der Antarktis hören, die unser Freund mitgebracht hat. Wir haben auch zusätzliche Perkussion eingesetzt, um dem Ganzen einen etwas anderen Charakter zu verleihen.

    Dave hat "Angelm" in einem Studio auf einem großen Lightship auf der Themse in London abgemischt.

    Anne: Hast Du ein Lieblingsstück auf "Angelm"?

    H. Walker: In allen steckt die gleich harte Arbeit und Freude, also ändern sich meine Favoriten täglich.

    Anne: Ihr habt gerade das Video für den Song "Eyes In The Bull Temple" veröffentlicht. Worum geht es in dem Stück?

    H. Walker: Die Single-Version ist wesentlich kürzer als die LP-Variante. Ich habe bereits erwähnt, dass wir die Tracks auf Papier skizzieren und aufschreiben, was wir in jedem Abschnitt des Songs erreichen wollen. Ich werde nicht zu sehr auf die "Bedeutung" eines Songs eingehen, denn die eigene Interpretation des ist genauso gültig wie die Absicht, mit der er kreiert wurde. Ich kann Dir aber erzählen, wie die Single-Version entstanden ist: Für die Strophen wollten wir zum Beispiel eine Basslinie, die ein punkiges Tempo hat, bei der die Noten aber umherwandern, damit sie sich nicht zu sehr auf einige wenige Stellen fixiert fühlen. Wir hatten ein sehr einfaches Schlagzeug, das wir diesen Noten gegenüberstellten. Wenn dann die Refrains einsetzten, kamen die Gitarren und der Gesang rhythmisch an Stellen, die nicht zum vorherigen Bass passten. Die Vocals haben zwei Freund*innen von uns eingesungen. Wir wollten eine Mischung aus fußballähnlichen Gesängen, feierlichen Anfeuerungsrufen und Klängen, die man in der Umgebung eines Rituals zuordnen könnte, erzeugen.

    Anne: Eure Songs haben eine große dynamische Bandbreite, die von ruhigen, introspektiven Momenten zu intensiven, kraftvollen Abschnitten wechselt. Ist das ein Spiegelbild des Lebens?

    "Mit unserer Musik wollen wir Kopf und Körper anregen"

    H. Walker: Für manche ja. Für andere vielleicht nicht so sehr. Wir wollten, dass diese Extreme da sind, weil wir wollten, dass es für uns aufregend ist, etwas zu machen und zu hören. Und wir hatten das Glück, das auch mit anderen teilen zu können – von Räumen bis zu einem Sturm der Sinne. Tage können oft routinemäßig oder betäubend sein. Wir wollen dem trotzen, indem wir Kopf und Körper anregen.

    Anne: Als Zuhörer*in hat man keine Chance. Sobald man anfängt, Kerretta zu hören und in einen Song eintaucht, begibt man sich auf eine Reise, die einen an fantasievolle Orte führt. War das schon immer Euer Ziel? Die Menschen dazu einzuladen, ihren Alltag für einen Moment zu vergessen und in eine Welt zu reisen, in der Dinge wie Zeit und Geld keine Rolle spielen?

    H. Walker: Ja! Ziemlich genau das! Du hast die Wahl zwischen einem Soundtrack des Lebens oder einem Leben in einem Soundtrack.

    Anne: Ich habe von Kraftwerk und Kyuss gelesen. Gibt es noch weitere musikalische Projekte, die Euch zu Eurem Sound inspiriert haben?

    H. Walker: So viele! Wir sind mit sehr viel Gitarrenmusik aus den 1990er-Jahren aufgewachsen. Um einige davon zu nennen, die besonders herausstechen – alles von Fugazi bis The Jesus Lizard und Soundgarden. Künstler*inne wie Lee Scratch Perry, John Coltrane, Wendy Carlos, Ennio Morricone, Nina Simone, Nancy Sinatra und die vielen polynesischen Perkussionsinstrumente hatten alle ihre Techniken oder Arbeitsweisen, die uns beeindrucken.

    Anne: Du bist aus Auckland, New Zealand. Wie würdest Du die Musikszene in Deiner Heimatstadt beschreiben?

    "Die Gemeinschaft in Auckland ist sehr hilfsbereit"

    H. Walker: Im Vergleich zu den meisten Städten ist Auckland wahrscheinlich recht klein, aber die Gemeinschaft ist sehr hilfsbereit. Ich glaube, es gibt eine viel größere Mischung von Leuten in verschiedenen Gruppen und verschiedenen Genres als in anderen Ländern. So ist es nicht ungewöhnlich, in drei oder vier Bands zu spielen, die alle einem anderen Genre angehören. Heute gehen viele kleine, unabhängige Bands auf Tour, was früher keine Option gewesen wäre. Das Gefühl der Isolation ist weniger stark als noch vor fünf oder zehn Jahren. Wenn man in Australien auf Tour ist und ein paar Tage freihat, gibt es keinen Grund, die Stadt nicht zu besuchen.

    Anne: Wenn Du etwas auf der Welt verändern könntest. Was wäre es und warum?

    H. Walker: Dass wir alle freundlicher miteinander umgehen würden. Die meisten Antworten auf alle Fragen beginnen an diesem Punkt.

    Kerretta – "Eyes In the Bull Temple"

    Kerretta – "Oceania"

    © 2024 · soundsvegan.com · Anne Reis