11 Fragen an Lucynine
"Die Musik, die ich komponiere, ist in meinem Kopf immer bildhaft"

Anne: Dein neues Album "Melena" ist unglaublich persönlich und eindringlich geworden. Was hat Dich zu dem Projekt inspiriert und wie fing es an?
Sergio: "Melena" ist eine Art "logische Fortsetzung" meines letzten Albums "Amor Venenat" – obwohl es auf eine komplett andere Art und Weise entstanden ist. Es wurde während einer für mich persönlich sehr schwierigen Phase in gerade mal etwas über drei Monaten komponiert, aufgenommen, gemixt und gemastert. Ich denke, es ist ein klanggetreues Porträt dieses Moments der tiefen Verzweiflung.
Anne: Du hast alle Aspekte der Produktion selbst übernommen. Von der Komposition bis zum Abmischen. Wie hat die Arbeit komplett alleine den Sound und die emotionale Wirkung Deines fertigen Albums geprägt?
Sergio: Für mich ist das eine ganz natürliche Arbeitsweise. Das liegt daran, dass meine Herangehensweise an Musik, auch wenn dieses Album eine sehr intime Dimension zum Ausdruck bringt, die eines Komponisten und nicht die einer typischen Band ist, die in einem Proberaum jammt, Ideen austauscht und diese dann arrangiert. Ich habe fast immer schon vor Beginn der eigentlichen Arbeit an einem neuen Track eine Vorstellung vom gewünschten Endergebnis. Ich muss dann im Grunde noch zur Gitarre greifen oder die harmonische Sequenz skizzieren und dann Stein für Stein darauf aufbauen.
Anne: In Deinem Track "Opera al nero" beschreibst Du Dich selbst als "Souverän eines leichehaften Königreichs". Als ich meine Preview geschrieben habe, ist mir aufgefallen, dass sich dieser Song wie das Herz von "Melena" anfühlt. Was wolltest Du mit diesen Bildern ausdrücken und wie hat das den Rest des Albums geprägt?
Sergio: Das Album handelt von Depressionen, Einsamkeit und dem Gefühl des Verlassenseins. Ich war gerade nach über zehn Jahren auf dem Land in die Stadt zurückgezogen und trauerte nach wie vor um den Verlust meines Partners, den Mann meines Lebens, der 2018, nur wenige Stunden nach unserer Hochzeit, in meinen Armen gestorben ist. Gleichzeitig stimme ich Dir zu, dass man das Stück als Herz des Albums sehen kann. Es dreht sich schließlich auch alles darin um den Zustand, in dem ich gelebt habe, den ich auf eine Art und Weise versucht habe, zu beschreiben. Wie eine Art musikalischer Exorzismus. Es ist kein Konzeptalbum, aber dieses Thema zieht sich definitiv durch alle Tracks.
Anne: Viele der Songs auf "Melena" fühlen sich an, als würden sie an der Grenze zwischen Verzweiflung und Entspannung existieren. Wie schaffst Du es, Schwere und Musikalität in Einklang zu bringen, ohne Dich auf "Bequemlichkeit oder Vorhersehbarkeit" zu verlassen?
"Diese Songs zu komponieren, hat sich sehr natürlich angefühlt"
Sergio: Um ehrlich zu sein, war nichts wirklich vorab berechnet. Der Prozess war sehr natürlich und instinktiv. Manchmal fallen den Zuhörerinnen Elemente auf, die Komponistinnen so tief verinnerlicht haben, dass sie sich dessen gar nicht mehr bewusst sind.
Anne: In Deinem Song "Oltre la soglia", heißt es "Temi l'uomo che non ha più nulla da perdere", was übersetzt so viel bedeutet wie "Fürchte den Mann, der nichts mehr zu verlieren hat", wenn ich das richtig verstanden habe. Ich habe diesen Satz bereits in meiner Preview hervorgehoben. Mich interessiert, inwiefern diese Idee mit den Themen Verlust, Widerstandsfähigkeit oder Transformation in Deinem Werk in Verbindung steht.
Sergio: Deine Übersetzung ist richtig. Die Bedeutung bezieht sich darauf, wozu ein Mann fähig ist, der mit sich selbst alleine gelassen wird und keine Hoffnung für die Zukunft hat. Wenn man darüber nachdenkt, ist das erschreckend – er kann alles tun, und es ist selten etwas Gutes. Als ich das geschrieben habe, war ich auch von einer enormen Wut auf mich selbst erfüllt. Das lag daran, dass ich die Realität um mich herum nicht kontrollieren konnte. Oder besser gesagt, daran, dass ich nicht wusste, wie ich mit dem umgehen sollte, was von außen kam, so wie es ein klar denkender, ausgeglichener Mensch tun würde.
Anne: Das Albumcover zeigt das eindrucksvolle Bild einer toten Elster. Wie wichtig sind Dir visuelle Elemente für Deine Musik und wie bist Du auf dieses Motiv gekommen?
"Die Bilder sind für mich genauso wichtig, wie die Musik"
Sergio: Bilder sind für mich genauso wichtig wie der Klang selbst. Ich bin von Beruf Fotograf und die Musik, die ich komponiere, ist in meinem Kopf immer visuell, immer mit einem Bild verbunden. In diesem Fall ist das Cover jedoch eher zufällig entstanden. Ich war auf der Suche nach etwas, das die Stimmung des Albums visuell ausdrücken könnte, und eines Tages, als ich mein Haus verließ, sah ich eine tote Elster auf dem Boden liegen. Ich nahm sie mit ins Studio, baute ein kleines Set auf und fotografierte sie. Das Thema wurde für mich dann zum roten Faden, der sich nun durch das gesamte Digipak-Artwork zieht.
Anne: In Deiner Arbeit befasst Du Dich häufig mit persönlichem Leid, deutest aber auch auf umfassendere gesellschaftliche oder ökologische Probleme hin. Inwiefern gehen die Themen in Deiner Musik Deiner Meinung nach über Deine eigenen Erfahrungen hinaus?
Sergio: Der Schmerz, den ich in den Texten beschreibe, ist wirklich mein eigener – roh, persönlich, intim. Es gibt keine direkten externen Bezüge. Ich bin jedoch ein durchaus reflektierter Mensch und habe bemerkt, wie sehr die Gesellschaft mein Gleichgewichtsgefühl beeinflusst. Ich bin ziemlich zurückhaltend und reserviert, aber kein Einsiedler; ich bin definitiv nicht gleichgültig, wenn es um Politik, Umwelt oder Gesellschaft geht. Diese Themen haben eindeutig einen großen Einfluss auf mein tägliches Leben. Ebenso wie Religion – eigentlich sogar besonders Religion … gegen die ich mich sehr offen ausspreche (ich weiß, das ist vorhersehbar für jemanden, der Black Metal spielt, haha), aber da ich in einer Familie von ziemlich fanatischen Katholiken aufgewachsen bin, sehe ich den Feind aus nächster Nähe.
Anne: Welche Rolle spielen handgemachte, kompromisslose Werke wie "Melena" Deiner Meinung nach in der heutigen Musikwelt, in der KI und kuratierte "perfekte" Klänge allgegenwärtig sind?
Sergio: Als Fotograf kämpfe ich jeden Tag gegen den Effekt, den KI auf Kunst hat. Sie flacht alles ab. Und es ist ein harter Kampf, den wir Kreativen meiner Meinung nach verlieren werden. Dennoch lohnt es sich für uns, ihn zu kämpfen. Ich gebe zu, dass mir die Zukunft Angst macht, aber auch die Gegenwart wird von Tag zu Tag schwieriger. Deshalb habe ich bei allem, was ich tue, sowohl als Musiker als auch als Fotograf, das tiefe Bedürfnis, eine starke Persönlichkeit zu bewahren – etwas, das ausschließlich mir gehört. Selbst dieser Sound, der vielleicht roh und rau wirkt, ist tatsächlich bis ins kleinste Detail ausgearbeitet, weil ich mit jedem Aspekt zufrieden sein möchte – ich bin ein Perfektionist. Es ist aber nicht die Art von Perfektion, die wir mit Plattenlabels, Quantisierung, Autotune, extremer Bearbeitung und so weiter verbinden. Genau das vermeide ich. Ich kann es nicht ertragen, wenn eine Band, die ich liebe, von einem Major-Label unter Vertrag genommen wird und gezwungen ist, flach und unpersönlich zu klingen, wie alles andere in den Charts. Ich denke immer daran, wie brillant die frühen Alben von Korn waren, als David Silveria – ohne Metronom und ohne Grid-Quantisierung – den Groove nach Belieben vorantreiben und zurückhalten konnte. Diese Musik hatte Seele: Sie klang echt, kraftvoll, dynamisch. Aber ich glaube an die Zyklizität von Trends. Früher oder später wird uns diese Sättigung dazu bringen, wieder nach Menschlichkeit in der Kreativität zu suchen. Und in einigen Underground-Ecken geschieht das bereits.
Anne: Wenn Du jetzt auf die Entstehung des Albums zurückblickst: Gab es Momente des Zweifels oder der Überraschung, die dafür gesorgt haben, dass sich die Richtung der Musik verändert hat?
Sergio: Wie erwähnt, zwang die relativ kurze Zeit, in der "Melena" konzipiert und fertiggestellt wurde, den Arbeitsablauf zu einer gewissen Linearität. Es gab also keinen Raum für grundlegende Richtungsänderungen. Dafür war schlicht keine Zeit. Die einzige erwähnenswerte Anekdote betrifft den Titeltrack, der auf eine ganz andere Weise als alle anderen entstanden ist. Ich habe ihn in wenigen Stunden geschrieben und fertiggestellt, wobei jedes Instrument unabhängig von den anderen improvisiert ist, nach einer Richtlinie, die ich anhand einer Art Algorithmus erstellt hatte, der lose mit der in der Zwölftonmusik verwendeten Reihe verbunden war. Dennoch verfolgte er einen modalen Ansatz. Das hatte ich zuvor noch nie gemacht.
Anne: Was erhoffst Du Dir, was Menschen, die sich "Melena" anhören, mitnehmen? Emotional und intellektuell?
"Am Ende dreht sich alles um die Musik"
Sergio: Es ist zwar eine introspektive Reise in meine persönliche Dunkelheit, und die Texte sind sehr intim und bedeutungsvoll, aber letztlich ist es Musik. Ich hoffe also, dass die Zuhörer*innen Spaß daran haben, dass sie sich sogar irgendwie daran erfreuen und – wenn sie sich in dem, was sie hören, wiedererkennen – in "Melena" ihr eigenes Ventil finden, eine Art Katharsis. Ein wenig – bei aller Bescheidenheit – wie vor fast 30 Jahren, als ich all meine jugendliche Wut und Frustration loswerden konnte, indem ich Iron Maidens "Powerslave" mit voller Lautstärke über meine Kopfhörer gehört habe. Ich glaube, dass bestimmte Arten von Musik, die aus einem Bedürfnis heraus, aus einer Notwendigkeit heraus entstanden sind, genau diesem Zweck dienen – sowohl für den Künstler als auch für den Zuhörer. Aus genau denselben Gründen.
Anne: Vielen Dank, dass Du Dir die Zeit für das Interview genommen hast. Ich wünsche Dir alles Gute für das Album! Gibt es etwas, das Du mit meinen Leser*innen teilen möchtest, zu dem ich Dir keine Fragen gestellt habe?
Sergio: Danke Dir. Das war ein wundervolles Interview mit Fragen, die mich wirklich dazu gebracht haben, innezuhalten und nachzudenken. Also bin ich es, der Dir für den Raum danken sollte, den Du mir gegeben hast. Wer "Melena" hören und meine Aktivitäten verfolgen möchte, findet mich in den sozialen Medien und auf den Kanälen von Talheim Records. Alles Gute!