Lucynine – "Melena"
Post-Black-Tauchgang in düstere Gewässer

Wenn ein Album nach einer Krankheit benannt wird ("Melèna" steht für die Ausscheidung schwarzen Blutes), ahnt Ihr sicher schon: Hier erwartet Euch kein "alltägliches" Album. Mit seinem zweiten Full-Length-Album Melena liefert der Turiner Multiinstrumentalist Lucynine aka Sergio Bertani ein Werk, das Verzweiflung, Klaustrophobie und rohe Intensität in 32 Minuten Post-BlackMetal, Post-Hardcore und Avantgarde gießt. Das Album, das am 3. Oktober 2025 über Talheim Records erscheint, versteht sich sowohl als Schrei persönlichen Leidens als auch als Reflexion der Welt um uns herum.
Der Opener "Uomo in mare" ("Mann über Bord") prägt gleich zu Beginn die Stimmung mit einem erdrückenden Gefühl der Isolation. Bertani schreit:
"Annaspo in un nero mare di mestizia / E nessuno mi porge la mano"
("Ich strample in einem schwarzen Meer der Traurigkeit / Und niemand reicht mir die Hand").
Ein Bild des Ertrinkens – zutiefst passend für unsere Zeit, in der Umweltzerstörung, Krieg und Desinformation viele wie gestrandete Menschen fühlen lassen.
"Narciso non muore" ist kürzer, aber nicht weniger intensiv. Rituelle Rufe wie "OSANNA, PREGA!" verwandeln sich in Anklage: "Morta è la virtù / schiava del proprio ego" ("Die Tugend ist tot, versklavt vom eigenen Ego"). Lucynine hält uns einen Spiegel vor: eine Gesellschaft, die das Oberflächliche feiert, während die Welt brennt.
Radikal gefühlvoll
Anders als Sergios Debüt, das komplexe Konzeptalbum "Amor Venenat" (2020), für das sich der Künstler zahlreiche Gäst*innen ins Studio holte, ist "Melena" fast schon radikal einsam und geht dabei ganz tief unter die Haut. Sergio persönlich hat alles auf der Platte komponiert, eingespielt, produziert und abgemischt. Das Ergebnis klingt mit voller Absicht erdrückend. Die Vocals liegen unter einer dichten Wand aus Verzerrung, Kompressionen saugen jegliche Luft aus der Musik. Jeglicher Raum verschwindet. Hier gibt es keinen Trost und einen Ausweg sucht Ihr vergebens.
Im Titeltrack "Melena" spiegelt sich dieses Gefühl wider:
"Chiodi negli occhi, spine tra i denti / Muori ogni giorno, ma vivi per sempre"
("Nägel in den Augen, Dornen zwischen den Zähnen / Du stirbst jeden Tag, aber lebst ewig"). Hier gibt es keine kathartische Auflösung, nur endlose Qual.
Ein Schrei nach mehr Gerechtigkeit
Mit dem vierten Stück "Oltre la soglia" kommt ein Wendepunkt:
"Temi l’uomo che non ha più nulla da perdere"
("Fürchte den Mann, der nichts mehr zu verlieren hat")
Der Song ist ein sehr persönlicher Schrei, der auch gesellschaftlich resoniert: Wenn ganze Generationen ihre Hoffnung durch die Klimakrise, wirtschaftliche Unsicherheit und politische Lügen verlieren, kann kein Mensch voraussehen, welche Stürme uns noch bevorstehen.
"Opera al nero" lässt sich klar als das Herzstück von "Melena" bezeichnen. Der Track ist eine 15-minütige Geschichte, in der Sergio die ästhetische Vision seines Albums bis an seine Grenzen treibt. Er trauert darin auf den Ruinen eines toten Landes und wird dabei zum König einer neuen Unterwelt.
"Impugno lo scettro / Sovrano di un regno cadavere"
("Ich ergreife das Zepter / Herrscher eines Leichenreichs"). Stille verschlingt den Klang, Erinnerungen zerfallen, und das Universum selbst stürzt ein. Es ist erschöpfend, düster und gleichzeitig hypnotisch.
Ein Post-Black-Metal-Erlebnis
"Melena" unterscheidet sich vor allem durch die Weigerung, Verzweiflung zu romantisieren, von vielen Post-Black-Metal-Veröffentlichungen und wird dadurch zu etwas ganz Eigenem und Besonderem. Auf dem Album werdet Ihr weder pastorale Pausen noch melodische Aufhellungen vorfinden. Lucynine verweigert uns den Trost und zwingt uns, uns mit der Klaustrophobie auseinanderzusetzen. Wenn Bands wie Alcest oder Deafheaven uns Flucht bieten, hält Lucynine uns für eine Weile im Spiegel gefangen.
Schon der tote Eichelhäher auf dem Cover spricht Bände: Einst Symbol für Freude und Freiheit, wurde er zwischen Tod und Trauer zurückgelassen. In Zeiten globaler Umweltzerstörung und brüchiger sozialer Bindungen trifft dies wie ein Schlag ins Herz.
Fazit: Unbedingt hören!
"Melena" ist kein Album zum einfach mal eben so nebenbei Genießen. Es ist ein Werk, das vollen Einsatz fordert und dafür belohnt. Es ist hart, persönlich, politisch und unverfälscht. Wenn Ihr den Abgrund nicht scheut, findet Ihr hier eines der radikalsten Post-Black- und Avantgarde-Alben, das ich in den letzten Jahren entdecken durfte. Es heilt nicht und tröstet nicht und dafür lügt es aber auch nicht. In der Ära der Filter und des KI-Einheitsbreis ist das vielleicht das größte Geschenk, das uns Lucynine damit macht.