"Youth" von Kirin McElwain

"Das Ätherische mit dem Brutalen ins Gespräch bringen"

Anne

Preview von Anne
11.09.2025 — Lesezeit: 5 min

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"Youth" von Kirin McElwain
Bild/Picture: © Kirin McElwain

Kirin McElwains Debütalbum "Youth" erscheint am 10. Oktober bei AKP Recordings. Die sieben Songs fordern die volle Aufmerksamkeit und laden dazu ein, vollständig in die Musik einzutauchen. Beim Anhören der beiden vorab veröffentlichten Stücke "Closer" und "Youth" werdet Ihr den Wunsch verspüren, bei dieser Musik zu verweilen, sie auf Euch wirken zu lassen und all die komplexen Schatten der Vergangenheit mit ihren Kämpfen und Widersprüchen Revue passieren zu lassen.

Die klassisch ausgebildete Cellistin Kirin McElwain, die viele Jahre zwischen Brooklyn und Stockholm verbrachte, hat ein zutiefst persönliches und zugleich universelles Klangkunstwerk erschaffen. Über sieben Stücke hinweg verwebt sie die greifbare Wärme Ihres Cellos mit der krassen und gelegentlich schroffen Welt der modularen Synthese miteinander. Herausgekommen ist ein Album, das nicht vor Heaviness zurückschreckt und dennoch Momente großer Zärtlichkeit zulässt.

Die Pressemitteilung beschreibt "Youth" als "eine Meditation darüber, sich mit unseren Begierden und unserer Scham auseinanderzusetzen". Treffender kann man es wohl nicht formulieren. Falls das für Euch jetzt so klingt: Die Platte ist kein Stück "überintellektuell". Sie will gelebt und tief gefühlt werden. Eines von Kirins Statements dazu trifft den Nagel auf den Kopf:

"Die Gegenüberstellung von Ätherischem und Brutalem in dieser Musik entsteht dadurch, dass ganz unterschiedliche Teile von mir ins Gespräch kommen … Ich bin dankbar, mich auf meinem Instrument ausdrücken zu können, aber die Arbeit mit der Elektronik war für mich eine Quelle der Freude und Befreiung, die diese Beziehung weiterentwickelt hat."

Dieses Gefühl des Dialogs zwischen Zerbrechlichkeit und Kraft, zwischen Tradition und Experiment zieht sich wie ein dicker, roter Faden durch ihr Debüt "Youth".

Mein erster Eindruck von "Closer"

Kirin McElwain – "Youth"Kirin McElwain – "Youth"

Einige von Euch kennen vielleicht schon die erste Single "Closer", die Kirin am 20. August zusammen mit einem Video veröffentlicht hat. Als ich mir zum ersten Mal die Kopfhörer aufsetzte und reingehört habe, hielt die Stadt vor dem Fenster gefühlt für einen Moment an. Es fühlte sich an, als würde ich das Stück betreten und es mir von innen anhören. "Closer" entfaltet sich nicht sanft und gefällig, wie viele andere Songs aus diesem Genre. Es wächst viel aus sich heraus, entwickelt sich und stolpert zwischen Zerbrechlichkeit und Lärm hin und her. Kirins Cello schwebt herein, als wäre es aus einem anderen Zimmer zu hören, bevor die von ihr perfekt gewählten modularen Synthesizer wie ein elektrischer Sturm aufflammen und nach und nach das Ruder übernehmen. Ihr habt es hier mit experimentellem Drone-Sound auf höchstem Niveau zu tun – auf eine neoklassische und raue Art. Genau das ist es, was mich beim Hören so verzaubert und mir jedes Mal eine Gänsehaut beschert.

Kirin beschreibt die Bilder im Video zum Song als Erforschung "der oft fragilen Grenze zwischen dem schnellen Voranschreiten auf das, was wir uns am meisten wünschen, und der Leichtigkeit, einfach nur Beobachter*in unseres Verlangens zu sein – ohne jemals aktiv teilzunehmen." Vom Gepäckträger eines Fahrrads aus, das sich entlang des Atlantiks durch den Verkehr von Brooklyn schlängelt, gefilmt, spiegelt es mit seiner Bildsprache das klangliche Hin und Her des Songs wider: Bewegung folgt auf Zögern und Sehnsucht auf Stillstand.

Chris King, der das Video inszeniert und bearbeitet hat, hat es durch Schichten aus analogem Film, CRT-Verzerrung und digitalem Rauschen aufgebaut. Alle Frames leben von ihrer Unvollkommenheit, voll Körnung, Verfall und individuellen Störungen. So wie Kirins Cello sich mühsam aus dem Knacken der modularen Synthese hervorarbeitet, kämpfen auch die Bilder darum, sich zu einem Ganzen zusammenzufügen. Der Song und das Video erzählen von der Schwierigkeit, weiterzugehen und sich selbst aus der Beobachtung ins Getümmel zu stürzen.

"Closer" ist damit viel mehr als der passende Opener für Kirins erste offizielle LP. Der Track kommt mit einer ganz bewussten Ansage. Diese Musik wird uns nicht auf die gewohnte Weise trösten und wir werden hier ganz sicher keine einfachen Antworten serviert bekommen. Stattdessen fordert sie dazu auf, in der Spannung zu sitzen, die dabei entsteht, wenn wir uns mit der Zerbrechlichkeit unserer menschlichen Grenzen beschäftigen.

Kirin McElwain – "Closer"

"Youth" als perfekter Titelsong

Ab dem 17. September könnt Ihr auch die zweite Vorauskopplung anhören. Chris King hat auch zu "Youth" ein Video gemacht, das sich wie das emotionale Herzstück des Albums anfühlt. Im Gegensatz zum unruhigen und nervösen "Closer" voll kaum zu bändigender Energie, kommt dieser Song nachdenklich und geisterhaft um die Ecke.

Es ist fast unmöglich, "Youth" zu hören, ohne über das Wort selbst nachzudenken. Was bedeutet Jugend für Euch? Nostalgie? Bedauern? Sehnsucht? Befreiung? Kirins Komposition trägt all das in sich. Ihre Cellolinien sind langgezogen und sehnsüchtig. Darunter grollt mit großer Kraft die Elektronik und droht, diese zarte Oberfläche zu zerbrechen.

Krist unterstreicht diesen Zweiklang mit seinem Video. Darin dominieren die analogen Imperfektionen erneut die Bildwelt. Flackerndes Schneegestöber und Fragmente, die verschwinden, sobald man versucht, sich darauf zu fokussieren, wirken wie Signale aus einer anderen Zeit. Beim ersten Ansehen habe ich an die Erinnerung an sich gedacht und daran, wie die menschliche Jugend in jeder Darstellung und Erklärung immer irgendwie gebrochen wirkt und niemals so klar ist, wie man vermuten könnte. Selbst beim dritten oder vierten Anschauen sorgt der Clip noch für ein unruhiges Gefühl und vielleicht ist genau das der Sinn dahinter? Schließlich ist die Jugend – egal, ob die eigene oder die von anderen – niemals stabil. Sie ist immer nah und doch unerreichbar.

Darum solltet Ihr "Youth" hören

Kirin McElwainKirin McElwain

Die ersten beiden Vorauskopplungen von "Youth" geben die Richtung vor und insgesamt hat das Album noch viel mehr für uns auf Lager. Sieben sehr persönliche Songs, in denen Kirin Themen wie Jugend und Begehren erforscht, warten auf uns. Ihr könnt Euch definitiv darauf freuen, bald vollständig in ihre Musik einzutauchen und die Platte zu entdecken.

Neben Kirins großartiger Verbindung von klassischer Technik und modularer Synthese wird das Album vor allem durch ihre Bereitschaft, sich mit dem Unbequemen auseinanderzusetzen, zu etwas Besonderem. Genau das unterscheidet diese sieben Stücke von anderen Werken. Die Songs wühlen weder zu stark auf noch sind sie zu glatt. Ihre Kanten gehen niemals weg und zeigen sich immer genau an den richtigen Stellen. Obwohl die Musik nicht durchgehend tröstend wirkt, werdet Ihr beim Hören immer den Wunsch verspüren, noch eine Weile dabeizubleiben. Sie weckt auf und manchmal tut sie weh. Nicht auf die böse Art, sondern so, wie der Blick in den Spiegel vor einem grellen Licht schmerzen kann, wenn man sich gerade gar nicht unbedingt so klar sehen möchte.

"Youth" zu hören, befördert einen zurück in vergangene Zeiten, hin zu den unruhigen Versuchen, sich einer Sache zu nähern, die man selbst bisher nicht benennen kann. Und es erinnert daran, wie viel davon auch Jahrzehnte später noch mitschwingt. Kirin McElwain beschreibt diese Spannung so:

"Indem ich immer wieder zum Unbequemen zurückkehre, halte ich mir und meiner Arbeit einen Spiegel vor, der sich ehrlich und unverstellt anfühlt."

Ich glaube, genau das macht es so schwer, das Album loszulassen. Ich kann nicht sagen, ob es Euch genauso gehen wird. Vielleicht werden Euch diese Songs an ganz anderen Stellen berühren. Kaltlassen werden sie Euch auf jeden Fall nicht.

"Youth" ist ein Must-hear!

In einem Jahr voll großartiger experimenteller Veröffentlichungen sticht Kirin McElwains "Youth" klar hervor. Die Welt hat auf ihre Musik gewartet. Ihre Fähigkeit, Gegensätze wie Zärtlichkeit und Lärm, Klarheit und Verzerrung zu vereinen, ist inspirierend und beeindruckend.

Markiert auf jeden Fall den 10. Oktober im Kalender und hört dieses Album nicht einfach nur nebenbei. Schenkt ihm Eure Aufmerksamkeit und Zeit. Lasst Euch von der Musik herausfordern und bewegen. Schaut Euch die Videos an und achtet darauf, wie Euch jedes Mal wieder neue Details auffallen. "Youth" ist eine Konfrontation, eine Meditation und ein Spiegel – und ganz bestimmt keine Hintergrundmusik. Das Album lädt dazu ein, genau hinzuhören und Kontraste und Kleinigkeiten wahrzunehmen. Es sorgt für einen bleibenden Eindruck, der noch lange, nachdem die Musik verklungen ist, spürbar ist.

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