TV Cult
"Es gibt nichts Langweiligeres als belanglose Musik"
Interview von Anne
30.06.2025 — Lesezeit: 5 min

Mit "Industry" legen TV CULT aus Köln ein kompromissloses Post-Punk-Statement vor. Mit ihrem neuesten Song "Communion" öffnet die Band die Tür zu einem düsteren Kosmos aus bassgetriebener Wut und tiefgründiger Gesellschaftskritik. Musikalische Härte und emotionale Tiefe sind dabei wohl ausbalanciert. Im Interview habe ich mich mit Sänger Marco über die Entstehung des Albums, die zermürbende Suche nach dem Sinn jenseits leerer Ideologien und die harte Arbeit hinter den Kulissen unterhalten. Außerdem hat er mir verraten, wie es dazu kam, dass TV CULT gerade dabei sind, die Szene nachhaltig zu erschüttern.
Anne: Euer neuer Track "Communion" ist der erste Vorgeschmack auf Eure neue Platte "Industry". Was war der erste Funke oder das zentrale Thema, das den kreativen Prozess für das Album ausgelöst hat?
Marco: Es gab keine bestimmte Initialzündung oder so etwas für das Album als solches. Wir bewegen uns eigentlich permanent irgendwie in einem – mal mehr, mal weniger – "kreativen Prozess". Die ersten Songs und Ideen für "Industry" sind tatsächlich bereits entstanden, noch bevor unser Debütalbum veröffentlicht wurde, ohne aber dabei schon konkret an dessen Nachfolger gedacht zu haben.
Anne: Ich habe gelesen, in "Communion" geht es um das Zerreißen leerer Ideologien. Wie persönlich ist dieser Song für Euch, welche Ideologien sprecht Ihr konkret an und wie leicht fällt es Euch, sie hinter Euch zu lassen?
"Der Song 'Communion' lebt von seinen Metaphern"
Marco: Der Titel und die im Text verwendeten Metaphern spielen ja zunächst recht offensichtlich auf das Thema Religion an, der wir naturgemäß kritisch gegenüberstehen und von der ich mich persönlich auch noch nie angesprochen gefühlt habe. Aber dieses Bild wird hier eigentlich auch eher beispielhaft genutzt. Die Beobachtungen und Gefühle passen ebenso gut auf politische oder sonstige moderne "Ideologien" wie vielleicht Kapitalismus oder den Social-Media-Wahnsinn, zu denen wir unsere eigene Position immer wieder aufs Neue kritisch hinterfragen sollten.
Anne: Ich durfte die Platte ja schon hören und muss sagen, dass ich sie ziemlich gelungen finde. Sie ist so schön kompromisslos und direkt. Wie zufrieden seid Ihr damit und wie würdet Ihr Eure klangliche Entwicklung seit dem Vorgängeralbum "Colony" von 2023 beschreiben?
Marco: Es freut uns, dass Du das so siehst. Unser Ziel war beziehungsweise ist es, uns mit jedem Release zu verbessern, ohne uns dabei komplett neu zu erfinden. Wir probieren dennoch gerne neue Dinge aus, und wenn sie sich für uns alle gut und passend anfühlen, arbeiten wir damit weiter, indem wir versuchen, diese Elemente bereichernd in unseren Sound einfließen zu lassen. Unter diesem Aspekt empfinden auch wir "Industry" als eine gelungene Weiterentwicklung, auf technischer wie stilistischer Ebene.
Anne: Ich nehme an, dass Ihr den Titel "Industry" ganz bewusst gewählt habt. Was bedeutet Euch der Name und was verbindet Ihr damit?
Marco: Der Titel "Industry" ist für uns eine logische Fortsetzung des vorherigen Albums "Colony" und steht für die soziokulturelle Entwicklung der Menschheit in all ihren oftmals dystopischen Facetten.
Anne: Köln ist Eure Basis. Wie würdet Ihr die Musikszene dort insgesamt beschreiben und wie sehr wirkt sie sich auf Euch als Band aus?
Marco: Abgesehen von dem einzigen echten Ur-Kölschen in der Band hat der Rest von uns sich vor unterschiedlich langer Zeit in Köln angesiedelt. Bei mir sind es mittlerweile zwanzig Jahre und mich hat die vielfältige Musikszene hier sowie das umfassende historische Erbe über alle Genregrenzen hinweg von Anfang an begeistert und sicher auch zur Erweiterung meines persönlichen musikalischen Horizonts über die Jahre beigetragen. Mittlerweile nehme ich als Vater mit begrenztem Zeitpensum die hiesige Szene aber auch eher nur noch am Rande wahr und es fällt schwer, der Masse an ständig neu auftauchenden Bands zu folgen.
Anne: Ihr habt das Album in den 79 Sound Studios in Köln mit Christoph Scheidel (Hammerhead) aufgenommen, in den Holy Mountain Studios in London von Misha Hering (High Vis, Idles) abmischen lassen und Brad Boatright (Sleep, Stranger Things OST) hat es in Portland gemastert. Wie hat es sich angefühlt, diese einzelnen Stationen zu durchlaufen und Eure Musik dabei zu beobachten, wie sie sich immer weiterentwickelt hat? Hat diese internationale Zusammenarbeit eine zusätzliche Ebene hinzugefügt?
"Es ist eine spannende Kollaboration"
Marco: Es war wirklich spannend zu verfolgen, wie die individuellen Fertigkeiten dieser drei Experten auf ihrem jeweiligen Gebiet am Ende in einem stimmigen Endresultat zusammenfließen. Christoph kennen und vertrauen wir bereits seit unseren ersten Studioaufnahmen mit TV Cult vor rund drei Jahren. Nach entsprechender Recherche und auf Basis von persönlichen Empfehlungen haben wir uns schließlich bewusst für diese Kollaboration entschieden, auch in der Hoffnung, die Albumproduktion dadurch möglichst auf ein internationales Niveau zu heben. Und wir sind tatsächlich sehr zufrieden mit dem Ergebnis.
Anne: Wie viel Hoffnung steckt in den Songs auf "Industry"?
Marco: Oberflächlich betrachtet sind es wohl eher starke Emotionen wie Frustration und Wut, die hier deutlich überwiegen. Diese Energie hat – positiv kanalisiert – aber auch das Potenzial, uns dazu zu motivieren, Dinge zu verbessern. Unterschwellig schwingt daher trotz aller Verzweiflung auch immer eine gewisse Hoffnung mit.
Anne: Würdet Ihr sagen, dass das Album auch eine politische Komponente hat?
Marco: Wir würden uns allgemein nicht als politische Band im traditionellen Sinne sehen, die solche Themen plakativ in ihrer Musik verarbeitet und unterbringt, geschweige denn mit erhobenem Zeigefinger (wahlweise Mittelfinger) offensichtliche Missstände anprangert.
Trotzdem sind wir selbstverständlich alle Menschen mit politischer Haltung, und die zunehmend schockierenden Beobachtungen des politischen Weltgeschehens nehmen zwangsläufig Einfluss auf das Songwriting.
Anne: Je nachdem, wie man es betrachtet, könnte man sagen, dass wir heute in ziemlich düsteren Zeiten leben. Wenn Ihr eine Sache verändern könntet. Welche wäre es und warum?
Marco: Es wäre wünschenswert, die Menschheit wieder näher zusammenrücken zu sehen. Wir haben doch alle nur dieses eine kurze Leben. Warum also sollten wir uns von der endlosen Gier einiger Weniger nach immer mehr Macht instrumentalisieren lassen und es einander so schwer machen?
Anne: Adam Devonshire (Idles) und Graeme McKinnon (Home Front) haben Eure Musik ziemlich gelobt. Wie fühlt es sich an, von so bekannten Musikgrößen anerkannt zu werden?
Marco: Wir freuen uns über jegliches positives Feedback, unabhängig davon, ob es von völlig Fremden nach einer unserer Shows oder bekannten Szene-Leuten kommt. Aber es ist natürlich auch besonders erfreulich, Anerkennung von Menschen zu erhalten, die selbst so großartige Musik geschaffen haben.
Anne: Welcher der zehn Songs auf "Industry" war für Euch beim Aufnehmen die größte Herausforderung?
Marco: Jeder Einzelne von uns hatte hier vermutlich seine ganz individuellen Schwierigkeiten bei unterschiedlichen Stücken. Allerdings war auch der gesamte Aufnahmeprozess mitten in der Erkältungs-/Grippezeit im Winter eine kollektive Herausforderung. Rückblickend war das vielleicht nicht die beste Entscheidung, weil wir statt zweier fest geplanter gemeinsamer Wochenenden letztlich über mehrere Wochen verteilt immer wieder teils einzeln Zeit im Studio verbringen mussten. Wir sind wirklich dankbar dafür, dass Christoph von 79 Sound dabei trotz aller Widrigkeiten und ständiger Terminschieberei durchweg entspannt geblieben ist.
Anne: Gibt es ein Gefühl oder ein Bild, das Ihr gerne mit "Industry" bei Euren Hörer*innen hinterlassen möchtet?
"Wir wollen möglichst viele Shows an noch unbekannten Orten spielen"
Marco: Das überlassen wir gerne ganz den Menschen, die sich unser Album anhören. Wichtig ist allein die Tatsache, dass wir mit unseren Songs sowohl auf Platte als auch live Emotionen jedweder Art auslösen. Es gibt nichts Langweiligeres als belanglose Musik.
Anne: Wie geht es bei Euch nach der Veröffentlichung weiter?
Marco: Wir hoffen, möglichst viele Shows an uns noch unbekannten Orten spielen zu dürfen und die Songs live vor neuem Publikum zu präsentieren. Ein paar Termine nach der Release-Show in Köln stehen schon für Oktober und November fest, aber wir freuen uns immer über weitere Anfragen. Anfang des kommenden Jahres sind zudem kleinere Touren im europäischen Ausland, unter anderem in Belgien, Frankreich, Italien, Schweiz, Slowenien und in Großbritannien geplant.
Anne: Vielen Dank, dass Ihr Euch die Zeit genommen habt! Ich wünsche Euch viel Erfolg mit dem Album und Euren Plänen!
Marco: Mehr als gerne und ganz herzlichen Dank Dir! Ich hoffe, wir kommen auch bald mal wieder für einen Gig nach Hamburg.
"Industry" von TV Cult erscheint am 10. Oktober 2025. Ihr könnt hier schon reinhören: