Interview mit Thot Sänger Grégoire Fray zu "Delta"
"Mir gefallen alle Songs auf unserem neuen Album gleich gut!"
Das neue Thot-Album "Delta" ist heute erschienen! Ich habe mich letzte Woche mit Bandgründer Grégoire zusammengesetzt, um mich mit ihm darüber zu unterhalten. Dabei ist ein tolles Gespräch entstanden. Neben der Tatsache, dass Thot jetzt Teil von Pelagic Records sind, und natürlich den neuen Songs, haben wir uns unter anderem über Einstein, Stephen Hawking unterhalten – und darüber, dass die Menschen anfangen sollten, über Dinge nachzudenken, die sie bereits wissen.
Anne: Hallo Grégoire! Wie geht es Dir? Wie ist es Dir seit unserem Interview zum zehnjährigen Jubiläum von "Obscured By The Wind" ergangen? Wow, ich habe gerade gemerkt, dass das 2021 war! Die Zeit vergeht einfach viel zu schnell! Was hat sich seit dieser Zeit für Thot und für Dich persönlich verändert (abgesehen davon, dass Ihr jetzt Teil von Pelagic seid)?
Grégoire: Hallo Anne, mir geht es gut, danke! Ich hoffe, Dir auch! Es ist wahr, die Zeit scheint schneller zu verstreichen, wenn man mit unzähligen Dingen beschäftigt ist. Ich bin gerade auf dem Land und genieße es, dass die Zeit hier etwas langsamer zu vergehen scheint. Zum Glück ist sie ja relativ und ich mag es, ihre unterschiedlichen Geschwindigkeiten zu erkunden. Die Dinge haben sich also in einem anderen Maßstab verändert, und ich bin froh, dass ich noch am Leben bin und endlich dieses neue Album veröffentlichen kann! Ich kann mich also wirklich nicht beklagen.
Anne: Noch mal herzlichen Glückwunsch zu Eurem neuen Album "Delta"! Es ist brillant! Ich bin mir sicher, hinter den zehn Stücken stecken viele Geschichten. Möchtest Du mir ein paar davon verraten?
Grégoire: Vielen Dank. Es freut mich, dass es Dir gefällt. Wie wäre es, wenn ich Dir von Track 11 erzähle, der es nicht auf die finale Aufnahme geschafft hat? Die meisten der Songs habe ich während des COVID-19-Lockdowns geschrieben, der bei uns Mitte März begann. Wie Du vielleicht weißt, ist der 14. März als Pi-Tag bekannt. Albert Einstein wurde am 14. März geboren, und Stephen Hawking starb am 14. März. Also habe ich eine Art Gespräch zwischen den beiden geschrieben und daraus einen Song gemacht. Leider ist er nicht auf "Delta". Aber vielleicht schafft er es ja auf unser nächstes Album? Ich vermisse diesen Song.
Anne: Jetzt hast Du mich neugierig gemacht! Ich würde Track 11 zu gerne hören!
Welcher Song auf der Platte ist Dein Favorit?
Grégoire: Keiner. Ich mag sie alle gleich gerne (lächelt).
Anne: Für den Song "Hüzün" seid ihr nach Bulgarien gereist, um ein ganz besonderes Video dazu aufzunehmen. Was hat Euch auf die Idee gebracht und wie war Eure Reise? Wenn ich mich richtig erinnere, war es nicht Eure erste Reise nach Bulgarien, oder?
Grégoire: Das ist richtig. Ich habe Bulgarien 2017 mit einem Freund besucht. Wir haben uns damals allerdings nur in Sofia aufgehalten.
"Wir haben eine spannende Reise durch Bulgarien erlebt"
Thot – "Delta"
Was das Musikvideo anbelangt, so schrieben wir das Jahr 2021. Wir standen kurz davor, nach Bulgarien zu fliegen, um mit den Sänger*innen von The Mystery of the Bulgarian Voices Aufnahmen zu machen. Während wir uns auf die Reise vorbereiteten und das Hüzün-Demo immer wieder anhörten, hatten wir das Gefühl, dass wir auch von den Landschaften Bulgariens profitieren und ein Musikvideo drehen könnten.
Also begann die Jagd nach Drehorten – zunächst auf Google Maps. Irgendwann machten wir uns dann zwei Tage lang auf den Weg quer durchs Land. Wir filmten wie die Verrückten, wachten um fünf Uhr morgens auf, um die aufgehende Sonne am Schwarzen Meer zu erwischen, oder verirrten uns in den Bergen, um die Kukeri zu treffen, mithilfe des National Geografic Fotografen Ivo Danchev. Diese Dreherfahrung war genauso episch wie die Reise der Protagonist*innen und definitiv auch für uns eine transformative Erfahrung.
Anne: Das klingt nach einem spannenden Trip!
"Delta" ist eine Eurer vielseitigsten Platten, die Ihr bisher gemacht habt. Das Album vereint Industrial und elektronische Parts mit starker Rhythmik und nachdenklichen Abschnitten.
Ich mag die Kontraste und die atemberaubenden Momente dazwischen sehr. Es ist verzerrt, kompliziert und zugleich eingängig. Identifiziert Ihr Euch nach wie vor mit dem "Vegetal Noise"-Genre, das Eure Fans einst speziell für Euch erschaffen haben?
Grégoire: Danke, dass Du fragst!
"Die Leute dürfen unsere Musik nennen, wie es ihnen am besten gefällt"
Ich weiß wirklich nicht, was ich mit diesem Label machen soll. Beim ersten Album, das sehr von der Beziehung zur Natur inspiriert war, ergab es jedoch definitiv Sinn. Ich bin auf dem Land aufgewachsen und habe zum Beispiel immer sehr sensibel auf die Jahreszeitenwechsel reagiert. Den Wolken dabei zuzusehen, wie sie im Wind über die Hügel tanzen, hat mich nie gelangweilt. All diese Dinge.
Und ich weiß, dass mich einige Leute für einen Spinner hielten, als ich dieses Label benutzte, weil sie dachten, ich würde Musik mit Pflanzen machen, was ich ihnen gerne weismachen wollte. Außerdem war diese Bezeichnung hübsch und einzigartig, während andere Genres nie wirklich zu 100 Prozent zu dem passten, was ich machte. Heute wäre die zutreffendere Bezeichnung Post-Industrial/Rock, aber ich bin mit jeder Bezeichnung einverstanden, die Leute für unsere Musik verwenden.
Anne: "Delta" ist Euer erstes Album auf Pelagic Records. Das ist noch ein Grund, zu feiern! Ich habe mich so gefreut, als ich die Nachricht erhalten habe! Ich bin auch ein bisschen stolz, um ehrlich zu sein. Es fühlt sich an, als hätte ich Euch für sie entdeckt (Scherz). Ich bin so froh, dass wir immer in Kontakt geblieben sind und dass ich mich endlich mit Dir persönlich über diesen Schritt unterhalten kann, um alles aus erster Hand zu erfahren! Wie ist die Zusammenarbeit bis jetzt?
Grégoire: Vielen lieben Dank!
"Pelagic ist mehr als nur ein Plattenlabel!"
Thot
Und danke, dass Du uns über die Jahre treu geblieben bist. Ich habe Sounds Vegan damals durch ein Interview mit meinen Freunden von Lost in Kiev entdeckt, deren Album auch auf Pelagic erschienen ist. Hier schließt sich also der Kreis. Die Arbeit mit Pelagic ist sehr aufregend und inspirierend. Das ist eine Gemeinschaft von starken und kreativen Köpfen. Viel mehr als nur ein weiteres Plattenlabel. Da ist die bemerkenswerte Ästhetik der einzelnen Veröffentlichungen.
Da ist die brillante Idee eines Vinyl-Abonnements. Ich höre viele Bands aus dem Roster, einige davon kenne ich persönlich. Deshalb ist die Möglichkeit, zu dieser einzigartigen Gemeinschaft beizutragen, für meine Bandkolleg*innen und mich rundum erfreulich.
Anne: Vom ersten Akkord oder der ersten Textzeile, die Du geschrieben hast, bis zur fertigen Vinyl-Edition. Wie lange habt Ihr an "Delta" gearbeitet?
Grégoire: Zu lange. Fast vier Jahre von den ersten Noten bis zum Mastering. Aber wie ich schon sagte, Zeit ist relativ!
Anne: Wie sehen Eure Pläne für nach der Veröffentlichung aus? Ich nehme an, bei Pelagic ist eine Menge in Arbeit?
"Das Album ist Teil eines größeren Ökosystems von Veröffentlichungen"
Grégoire: Wir hatten schon drei Musikvideos (plus eine Piano-Version der ersten Single, die am Piano Day veröffentlicht wurde) fertig, bevor das Album veröffentlicht wurde. Und wir haben noch mehr Material, wie Studioaufnahmen, akustische Versionen und vielleicht weitere Musikvideos. Ich sehe das Album als Kernstück eines größeren Ökosystems oder Universums, muss ich sagen. Pelagic hilft uns auch dabei, neue Hörer anzusprechen und mit ihnen in Kontakt zu treten.
Außerdem stehen einige Live-Shows an, wie unsere Release-Party in Brüssel am 13. Juni, das ArcTanGent Festival und das Pelagic Festival im August. Weitere Auftritte müssen noch bestätigt werden.
Ich hoffe, dass wir uns bei einem der Konzerte sehen werden?
Anne: Ich hoffe auch, Euch bald wieder live zu erleben!
Es scheint, als würde sich die Musikszene in neue, beängstigende Richtungen entwickeln. Einerseits gibt es Künstler*innen, die mit Privatjets um die Welt fliegen und mit Promotionsverträgen Millionen verdienen. Auf der anderen Seite gib es die, die Vollzeit arbeiten müssen und gezwungen sind, ihre Touren so zu planen, dass sie auf ihre knappen Urlaubstage fallen. Meist sind es die Bands, die die tollste, kreativste und aufregendste Musik machen, die sie oft selbst produzieren und verkaufen, die damit nicht einmal genug verdienen, um ihren Job in der Fabrik oder im Büro an den Nagel zu hängen. Sogar The Guardian hat gerade einen Artikel über diese Diskrepanz veröffentlicht. Wie erklärst Du Dir das? Warum wird das meiste Geld immer für Musik ausgegeben, die im Grunde heutzutage einfach von einer KI so programmiert werden könnte, wenn man ehrlich und vielleicht auch ein bisschen böse ist?
Wie siehst Du diese Entwicklung? Glaubst Du, dass es irgendwann andersherum sein könnte?
Ich meine, es ist ja nicht sehr klimafreundlich, in Jets herumzutouren, oder? Werden wir irgendwann wieder dazu übergehen, wertvolle auch wertzuschätzen? Oder, wenn wir beim Thema Klimakrise bleiben: Sind wir alle doomed, weil die Menschheit einfach zu doof ist?
"Irgendwann verschwinden wir wie die Sterne"
Thot
Grégoire: Nun, vielleicht sind wir wirklich doomed, sei es durch Naturkatastrophen oder durch einen Atomkrieg. Vielleicht ist das der Lauf der Dinge in jeder Zivilisation. Oder einfach mit dem Leben. Man wird geboren, man existiert, man entwickelt sich, man lernt, man scheitert, und man verschwindet wie die Sterne.
Was Deine Frage zur Musikszene angeht, gibt es meiner Meinung nach viele Gründe, warum wir heute hier sind: Es gibt das Internet, die KI, COVID, die Möglichkeit für fast jeden Menschen, selbst Musik zu produzieren (man muss sich nur mal anschauen, wie einfach es heute ist an eine anständige Aufnahmeausrüstung zu kommen) und vieles mehr.
Dann wären da noch Gier, Faulheit und Dummheit. Aber soll ich entscheiden, wer doof ist und wer nicht? Andererseits gibt es so viel Musik (und Kunst), die produziert wird. Sind wir in der Lage, alles zu würdigen? Manche Menschen müssen das hören, was sie schon kennen. Manche entdecken gerne Neues. Einige Künstler*innen neigen dazu, bestehende Formeln wiederzukäuen, während andere gerne experimentieren und neue Wege beschreiten.
Was meine persönliche Erfahrung betrifft: Ich weiß, dass ich mich auf diese Art zu leben eingelassen habe, weil ich wusste, dass sie in jeder Hinsicht eine Herausforderung sein würde. Und dennoch: Bei einem so coolen Label wie Pelagic unterzukommen, bedeutet nicht, dass das Touren super einfach wird oder das meine persönlichen Probleme verschwinden. Ich hoffe, es klingt nicht so, als würde ich mich beschweren. Ich versuche nur, etwas Abstand zu gewinnen. Das habe ich während des ersten Lockdowns häufig gemacht. Wir hatten keine Ahnung, ob wir jemals wieder Live-Musik so genießen können wie früher. Wenn nicht, hätten wir einen anderen Weg gefunden, uns auszudrücken, denke ich, oder?
Anne: Ja! Ich denke, Du hast absolut recht! Wenn es eine Sache auf der Welt gäbe, die Du ändern könntest. Was wäre es und warum?
Grégoire: Das Ende von "Alien: Resurrection"!
Anne: Das klingt absolut sinnvoll! Da bin ich auch dafür! Noch mal vielen Dank, dass Du Dir die Zeit für mich genommen hast! Wir sehen uns auf Euren Konzerten!
Grégoire: Es war mir wie immer ein Vergnügen, mit Dir zu sprechen! Danke, Anne, und pass auf Dich auf!
Holt Euch das neue Thot Album jetzt auf Bandcamp1!