Paul Seidel von FERN im Interview
Die zärtliche Seite von Heavy Music
Paul Seidel hat mit FERN vor Kurzem sein erstes offizielles Album "Intersubjective" veröffentlicht. Der The Ocean Drummer setzt im Projekt auf das Zusammenspiel aus elektronischen Elementen und Instrumenten und verbindet dabei die Welten von Pop und Industrial sehr geschickt miteinander. Ich hatte jetzt die Chance, ihn zu interviewen.
Anne: Hallo Paul! Danke, dass Du Dir Zeit für das Interview nimmst! Glückwunsch zum neuen FERN Album! Ich freue mich sehr über die Platte und finde, dass "Intersubjective" eine wunderbare Ruhe und Ausgeglichenheit bringt, gleichzeitig aber auch wachrüttelt. Bist Du zufrieden damit?
Paul: Hey Anne, danke für die Einladung und die Blumen! Ich bin sehr zufrieden, das ist eigentlich nicht selbstverständlich. Der ganze Entstehungsprozess war so ein stetiger Balanceakt zwischen Selbstfindung und gesunder Experimentierfreude, demnach fühlt es sich schon gut an, dass das Anhören des fertigen Albums dann auch Spaß macht und ich nicht das Gefühl habe, dass ich noch zehn weitere Jahre hätte, investieren sollen.
Anne: Es ist ganz schön viel los im Moment. Du kommst gerade von der Tour mit The Ocean zurück, die in wenigen Tagen auch schon wieder weitergeht. Nebenbei hast Du Dein Album mit FERN veröffentlicht und Dich um die ganze Promo und Vorbereitung gekümmert. Bleibt da überhaupt noch Zeit für eine Verschnaufpause?
"Ich habe gelernt, meine Batterien zwischendurch aufzuladen"
Paul Seidel backstage. Foto: Paul Seidel privat
Paul: Zugegebenermaßen ist die ganze Überlagerung der vielen Projekte manchmal etwas viel, aber man ist ja seines eigenen Glückes Schmied, wenn ich mich recht entsinne, demnach möchte ich mich nicht beschweren. Ich habe gelernt, die Verschnaufpausen zwischendurch wirklich so gut es geht auszukosten, um die Batterien aufzuladen.
Anne: Du hast ja 2017 bereits eine EP mit FERN veröffentlicht. Ein Album war schon länger in Planung. Was hat dazu geführt, dass Du es gerade jetzt in die Tat umgesetzt hast?
Paul: Die ganze Corona-Geschichte wurde ja mittlerweile zur Genüge ausgeschlachtet, allerdings ist das Album natürlich auch aufgrund der Zwangspause im Live-Betrieb wieder in den Fokus gerückt, da ich endlich mal Zeit hatte in mich zu gehen, Ruhe zu finden und nicht nur zwischen den Stühlen an Ideen zu basteln. Wenn man so viel auf Tour ist, wie wir mit The Ocean, kommen kreative Prozesse oft zu kurz oder man ist gelegentlich mental nicht auf der Höhe, um etwas Konstruktiv-Kreatives in Gang zu setzen.
Anne: Worum geht es im ersten Song "առաջանալ"? Du hast ihn mit Hayk Karoyi aufgenommen. Ein Freund von Dir?
Paul: Ich habe Hayk in Jerewan, der Hauptstadt Armeniens kennengelernt, als er spontan etwas für das letzte The Ocean Album "Phanerozoic II" aufgenommen hat. Er und ich waren danach in stetigem Kontakt und ich wusste bereits 2019, dass ich ihn gerne auf meinem FERN Album als Gast involvieren würde. Der Opener des Albums soll die Idee der digitalen Vereinnahmung und gleichzeitigen Emergenz der Dinge widerspiegeln. Eine Art Wechselspiel zwischen organischer Fragilität und der Entfremdung vom Ursprünglichen. Gleichzeitig wollte ich die Hörer*innen dazu bringen sich fallen zu lassen, den Fokus vom Außen auf das Innen zu richten.
Anne: Welche Künstler*innen hast Du Dir neben Hayk Karoyi für Dein Album ins Boot geholt? Wen bekommen wir da alles zu hören? Oder ist FERN ansonsten dieses Mal Paul Seidel pur?
"Mit Jan Kerscher sind viele Sounds und Details entstanden"
Paul Seidel an den Drums. Foto: Paul Seidel privat
Paul: Neben Hayk ist auch die wahnsinnig gute Cellistin Marie-Claire Schlameus auf dem Track "I Am A Transient" zu hören. Sie hat meine Ideen wirklich perfekt umgesetzt und dem Song die nötige Zärtlichkeit verpasst, die zuvor in den programmierten Sounds noch fehlte. Im aufwendigen Aufnahme- und Produktionsprozess mit meinem Freund und Kollegen Jan Kerscher sind auch unzählige weitere Sounds und Details entstanden, die vorher nicht da waren.
Wir haben Bässe und Gitarren eingespielt, Gesänge harmonisiert und verzerrt und viele Ebenen entstehen lassen, um das Klangbild noch interessanter und dimensionaler zu gestalten. Das war essenziell!
Ansonsten gibt es noch den Song "Exnomination", an dem ich mit meinem Bandkollegen Peter Voigtmann aka SHRVL in seinem Studio "Die Mühle" gearbeitet habe. Lustigerweise haben wir im gleichen Zeitraum auch Schlagzeug für zwei Songs des zuletzt veröffentlichten Casper Albums "Alles war schön und nichts tat weh" aufgenommen. Er war einer der Ersten, die die Rohversion des Songs zu hören bekamen.
Anne: Du bist fester Teil des The Ocean Kollektivs und bist als Schlagzeuger immer wieder an den unterschiedlichsten Projekten beteiligt. Gab oder gibt es noch weitere Projekte wie FERN für Dich?
"Hört mal in 'Kollmorgen' rein!"
FERN – "Intersubjective". Artwork: FERN
Paul: Ich habe dieses Jahr auch eine EP meiner Freundin Emma Kollmorgen coproduziert. Das Projekt trägt den Namen "Kollmorgen", die EP heißt "1243" und umfasst fünf Songs, die wir im Verlauf der letzten zwei bis drei Jahre verfeinert, vollendet und über Kompakt Records veröffentlicht haben. Wer auf Musik a la Portishead, Ry X oder Kiasmos steht, sollte da mal reinhören.
Anne: Würdest Du sagen, dass die Musik von FERN Deine Ideen am besten verkörpert?
Paul: Ich glaube, der wahrnehmbare Körper einer musikalischen Idee ist immer nur eine grobe Vorstellung von etwas viel Umfassenderen, das letztlich im Verborgenen bleibt. Mir selbst gibt FERN zumindest eine klarere Vorstellung davon, was mich musikalisch begeistert und fasziniert und was mich auch weiterhin motiviert, die inneren Impulse in etwas Greifbares umzuwandeln.
Ich möchte mich aber auch nicht zu sehr darüber definieren oder darauf festnageln lassen, was FERN sein kann oder zu sein hat. Das Schöne an Fragen ist ja manchmal auch, dass die Reaktionen darauf zu komplex sind, um sie als universelle Antworten gelten zu lassen.
Anne: Die Musik von FERN lebt wie bei The Ocean auch von Deinem dynamischen und präzisen Spiel. FERN steht für mich jedoch insgesamt im Kontrast zu dem, was Du mit The Ocean machst. Ich mag die Industrial-Zitate besonders. Ich glaube, wir haben da eventuell ein paar gemeinsame Held*innen. Was mich persönlich auch sehr anspricht, ist die zarte und zugleich sehr direkte Sprache insgesamt. Ist das ein anderer Teil von Dir?
"Sensibilität erlaubt es uns, die Welt mit all ihren Details wahrzunehmen"
Paul Seidel auf dem Dunk!festival. Foto: Paul Seidel privat
Paul: Ich denke nicht, dass es ein anderer Teil ist. Der Inhalt wird nur anders formuliert, vielleicht in einer anderen Sprache. Sensibilität ist eine Eigenschaft, die mich bereits seit meiner Kindheit im Positiven wie Negativen beeinflusst und mein Verhalten prägt. Vielleicht ist FERN in der Hinsicht eine Art Tagebuch, um die oft überwältigenden Eindrücke und Gedanken zu extrahieren und zu verarbeiten.
Es tut gut, diese zärtliche Seite wahrzunehmen und in ihrer Direktheit in etwas Verständliches zu übersetzen. Dafür fehlte mir oft das Bewusstsein. Mittlerweile weiß ich, dass diese Sensibilität mir auch erlaubt, die Welt in all ihren Details wahrzunehmen.
Anne: Wofür steht der Name FERN?
Paul: Ein Gefühl, eine Erinnerung, die Zukunft oder Vergangenheit. Dinge, die unser Vermögen übersteigen und uns dennoch in einen Gefühlszustand versetzen, der unsere Verhaltensweisen oder Gedanken beeinflusst. Alles, was wir nicht direkt greifen können.
Anne: Du schreibst, es geht auf "Intersubjective" um die Geschichte, die Gegenwart, die Zukunft und was wir möglicherweise daraus machen können. Beschäftigst Du Dich viel mit diesem Thema?
"Unsere Zeit fasziniert mich"
Paul Seidel an den Drums. Foto: Paul Seidel privat
Paul: Mich fasziniert unsere Zeit enorm. Wir hängen stets zwischen etwas Gewesenem und dem noch nicht Geschehenen fest, als Speerspitze einer Zukunft, die wir vermeintlich selbst in der Hand halten. Wir fließen eigentlich permanent als reagierende Wesen durch unsere Wahrnehmung, auf der Suche nach Antworten auf Fragen, die sich durch unsere Antworten ergeben. Ich weigere mich, mich der einseitigen Destruktivität und dystopischen Szenarien hinzugeben und beharre lieber darauf, dass das Leben bisher noch immer einen Weg gefunden hat, sich an die widrigsten Umstände anzupassen.
Anne: Wie sehen Deine nächsten Zukunftspläne für FERN aus?
Paul: Das wird sich in der Zukunft ergeben.
Anne: Deine Musik ist von Kontrasten geprägt. Licht und Dunkelheit, Härte und Leichtigkeit, Pop und Industrial. Ist das der Lauf der Dinge, das Leben an sich?
Paul: Die Dinge verbinden sich und zerbrechen wieder. Aus Zerbrochenem entsteht wiederum komplexere Einheit. Und je detaillierter die Welt wird, desto schwerer wird auch ihr Wirken. Das Leben ist ja nur eine Facette einer Realität, die sich nicht auf ja und nein vereinfachen lässt, sondern in der ja auch nein und nein auch ja ist.
Anne: Die Geschichte der Menschheit – Was, denkst Du, war zuerst da: Gesang oder Percussion?
Paul: Ja!
Anne: Du hast Dich genau wie ich sehr auf unser Interview gefreut. Neben Musik geht es auf meiner Seite auch viel ums Thema vegan. Kannst Du Dich damit auch identifizieren?
"Wenn ich nicht auf Tour bin, lebe ich vegan"
FERN – "Intersubjective" Artwork: FERN
Paul: Ich lebe seit ca. 12 Jahren vegetarisch und wenn ich nicht auf Tour bin auch hauptsächlich vegan. Allerdings erlaube ich mir im Urlaub auch ab und zu eine pescetarische Ausnahme.
Anne: Wir haben vorhin schon mal kurz über Verschnaufpausen geredet. Hast Du da vielleicht einen Tipp für mich? Wie schaffst Du es, zwischendurch runterzukommen?
Paul: Das ist ja wirklich sehr subjektiv. Manche Menschen hören zum Entspannen Black Metal, manche stricken, manche gehen Bergsteigen. Ich für meinen Teil gehe am liebsten spazieren oder lese ein Buch. Stille ist wirklich essenziell, da ich in Berlin sonst permanent von Geräuschen, Musik in Lärm umgeben bin.
Anne: Worauf freust Du Dich gerade am meisten?
Paul: Ich würde gerne ganz positiv antworten, aber mir fällt es momentan nicht so leicht, mich auf Dinge zu freuen. Demnach möchte ich auch nicht vortäuschen, dass es mir besonders gut geht. Ich freue mich allerdings auf kleine Dinge, wie zum Beispiel Yoga am Morgen, den Kaffee zum Frühstück oder die Möglichkeit abends für ein paar Stunden zu lesen. Das zu Hause sein ist auf jeden Fall etwas, das mir Kraft gibt und dabei hilft, mental auf der Höhe zu bleiben.
Anne: Mein Yoga am Morgen ist für mich auch eine ganz wichtige Energiequelle. Ich wünsche Dir alles Gute! Nochmal vielen Dank für das Interview! Es war mir eine Ehre und hat mir großen Spaß gemacht!
Paul: Ebenso! Ich hoffe, Deinen Leser*innen geht es ebenso.
Mein Interview mit The Ocean Sänger und Gründer Robin Staps könnt Ihr hier lesen.