Fat White Family – "Forgiveness Is Yours"
Post-Punk der Extraklasse
Fat White Family haben ihr viertes Album für den 26. April angekündigt! Ich habe "Forgiveness Is Yours" schon gehört und bin begeistert von der Vielschichtigkeit, Kreativität und der ausgeprägten Persönlichkeit dieser Musikperle. Merkt Euch das Datum auf jeden Fall schon mal vor und hört Euch die Vorauskopplungen "Bullet Of Dignity", "Religion For One", "Today Become Man" und "What's That You Say" an. Alles Weitere erzähle ich Euch in diesem Artikel.
Die sehr schnell als kultig gehandelte Londoner Post-Punk-Band hat definitiv abgeliefert und bringt mit ihren elf neuen Songs Schwung in die Musikszene. Sie tut das mit einem Knall, der sich in ein diffuses Gewebe aus Soundscapes, Klang, Lyrics und Percussion auflöst, um uns mit Schwung in ein neues Zeitalter zu befördern.
Wirbelig und krass, verstörend und zugleich vertraut – so klingt "Forgiveness Is Yours". Die Faszination, jedes noch so kleine Detail in den Stücken zu erforschen, bricht bis zum letzten Ton nicht ab. Ganz im Gegenteil: Sobald der Plattenspieler die letzte Rille gestreift hat, möchte man die Nadel auch schon zurück an ihren Ursprung schieben.
"Forgiveness Is Yours" sorgt für Aufsehen
Etwas über ein Jahrzehnt ist es jetzt her, seit Fat White Family zum ersten Mal für Aufsehen sorgten. Mit ihren Songs und ihrem exzentrischen Mix gekonnt gespielter Instrumente stießen sie schon immer aus der Masse der Veröffentlichungen hervor und hatten sich bald einen Platz auf dem Olymp der beliebtesten Post-Punk-Bands erobert – zu Recht! Sänger Lias Saoudi und der leider verstorbene Saul Adamczewski führten die Band selbstbewusst an und zogen Anhänger*innen der unterschiedlichsten Genres in ihren Bann.
2024 geht es verspulter und faszinierender weiter, als je zuvor mit FWF. Wer dieses Album schon bald live erleben wird, darf sich auf ein bewusstseinserweiterndes Event der Extraklasse freuen. Die ersten Tourdaten für die Konzerte der Fat White Family stehen bereits fest. Ich füge sie Euch unten mit an.
Schon mit ihrem 2013 veröffentlichten Debütalbum "Champagne Holocaust" riss die Band Grenzen ein und setzte mit ihrem verträumt-düster bis zappelig-verspielten Lo-Fi-Sound einen neuen Post-Punk-Trend. 2016 folgte mit "Song For Our Mothers" ein hochprovokatives Album, mit dem auch die letzten neugierigen Hörer*innen zu überzeugten Fans wurden. Songs wie "Whitest Boy on the Beach", "Tinfoil Deathstar", "Hits Hits Hits", "Touch The Leather" und "I Am Mark E. Smith" werden für immer in unseren Köpfen bleiben und beeinflussen bereits heute zahlreiche neue Bands.
Radikale Entwicklungen als Erfolgsrezept
2019 setzte dann mit dem dritten Album "Serfs Up!" noch einen drauf und wurde endgültig von allen Musikmagazinen auf diesem Planeten erwähnt. Die Band selbst sagt selbst, dass sie mit dieser Platte zu sich selbst gefunden hat. Das hat vor allem mit den in diesem Moment vollzogenen radikalen Weiterentwicklungen zu tun. Fat White Family entwickelten damals ihren Sound komplett neu. Stücke wie "Feet", "Rock Fishes", "Oh Sebastian" und "Tastes Good with the Money" sind uns allen wohl besonders in Erinnerung geblieben.
Lias Saoudi berichtet, dass das neue FWF Album "Forgiveness Is Yours" davon handelt, was passiert, wenn einem die Straße ausgeht:
"Es ist die Musik, die man macht, wenn man am Ende seiner Kräfte ist, am Ende der Welt."
Eine Tirade an die Geschehnisse im Vereinigten Königreich und dem Rest der Welt in den letzten Jahren, gepaart mit der Aufarbeitung persönlicher Traumata – so klingt "Forgiveness Is Yours" und so fühlt es sich auch an. Ein Beispiel ist hier der Track "Work":
"The lights are low, the meter's run dry, your mother's with another man
And when they tell you to go softly, check this knife that's in my hand"
Lias' Wut darüber, ständig Krisen bestehen zu müssen, geht klar aus dem Stück hervor:
"If you leave hell behind, build it elsewhere instead If you want to escape from horror, bury yourself therein"
Abschied von Saul Adamczewski
Lias' Gefühle über die multiplen Krisen unserer Zeit sind im Synth Wave Song geradezu greifbar.
Zur Entstehung der Platte hat er noch ein weiteres Statement:
"Nichtsdestotrotz hat die Entstehung des neuen Albums ernsthafte psychische Narben hinterlassen. Mein einziger Ehrgeiz bei der Veröffentlichung ist, dass ich mit der Tour genug Geld verdiene, um die jahrelange Psychotherapie zu bezahlen, die ich brauche, um weiterzukommen."
Wie genau der Bandgründer das meint, kann man erahnen. Insgesamt gab es auf dem Weg zur fertigen Platte einige holprige Abschnitte. Den Tod von Gründungsmitglied Saul Adamczewski während der Aufnahmen kann man sicher als die düsterste Phase der Band bezeichnen.
Das Album ist darum auch ein Abschied. Man hört ihm den Schmerz und die Verzweiflung während seiner Entstehung dennoch nicht sofort an. Es ist viel mehr eine Sammlung aus Hinweisen auf geliebte, literarische Meisterwerke, Entschiedenheit, dem Scheitern des Systems mit niemals abbrechender Wut und Scharfzüngigkeit entgegenzutreten und der ehrlichen Handarbeit der multiinstrumentalen Ausnahmetalente.
Lias' Liebe für große Schriftsteller*innen wird gleich im Opener der Platte deutlich. Der erste Song "The Archivist" beginnt er mit einer Spoken-Word-Inszenierung über Scheitern und Einswerden mit seinen Fehlern. Der zweite Song "John Lennon" ist eine intonierte Kurzgeschichte, in welcher der Sänger im Ketaminrausch Yoko Ono begegnet und irgendwann vom Geist des verstorbenen John Lennon besessen wird.
Das dritte Stück "Bullet of Dignity" hält das Album zusammen und sorgt für ein spektakuläres Zwischenspiel, das, wie Lias bereits angekündigt hat, ein entscheidender Bestandteil der kommenden Live-Shows der Fat White Family sein wird. "Polygamy Is Only for the Chief" erinnert ans Vorgängeralbum und sorgt für organisiertes Chaos in ihrer reinsten Form. Hört hier mal auf die Gitarrenparts, ich liebe sie besonders. Auch der Gesang ist hier atemberaubend.
Fat White Family – "Bullet of Dignity"
Insgesamt ist die Platte ein laut gedachter Gegenentwurf zum glatt geschliffenen und hochgepitchten Einheitsbrei, den wir heute immer wieder vorgesetzt bekommen. Durchdringend, entschieden und aufwühlend haben sich Fat White Family über alle Algorithmen hinweggesetzt und sich dabei ganz nebenbei selbst neu erfunden.
Katastrophen, Streits und Albträume (von denen handelt der fünfte Song "Visions of Pain") zu verarbeiten und dabei zu Musik zu machen, ist keine allzu neue Idee. FWF haben ihre Sache dabei ziemlich gut gemacht und es am Ende geschafft, alle losen Enden geschickt miteinander zu verbinden und zu einem großen Ganzen zu machen.
"Today You Become Man" ist das sechste Stück auf "Forgiveness Is Yours" und bereits als Vorauskopplung erschienen. Das Video könnt Ihr somit jetzt schon anschauen und den Song auf allen Plattformen streamen.
Der Song handelt unter anderem von Lias' großem Bruder Tam und seiner Beschneidung, die er im Alter von fünf Jahren ohne Betäubung in den algerischen Bergen erlebte. Tam selbst hat das Video zum Stück selbst vor Ort in Maillot aufgenommen.
Fat White Family – "Today You Become Man"
Song Nummer sieben "Religion for One" erzählt von Schmerzen, Missverständnissen und persönlichen Opfern. Auch hier hat Lias persönliche Themen verarbeitet.
"You are what you sacrifice Amalgam of pain Should your misplaced foresight Lead you to my door again Roll out them shekels babe spit out that gum My conscience dissipating You're vanity's firstborn runt Just a cat drinking its own reflection You're not the picture not even the frame Just a dog drinking up my reflection You're fishing for pain Your fear of failure and ambition the same thing You will never get a table at the Dorcia within Finish off this pedicure Re-direct the blame Your armour protecting nothing Your sympathy's driest month Just a bi-product of my resentment You're not the picture not even the frame Just a dog drinking up my reflection You're squandering pain Religion for one"
Das Stück verbindet sich fließend mit seinem Vorgänger, ist in seiner Spielweise jedoch unerwartet getragen und fragil. Hier erinnert mich musikalisch einiges an Filmmusikklassiker der 1970er-Jahre. Ich höre aber auch Einflüsse wie Nick Cave heraus.
Fat White Family – "Religion for One"
Weiter geht es mit "Feed The Horse", einem speedigen Stück Musik mit schönen Pulp und Siouxsie Andeutungen. Die Lyrics erzählen von einer dystopischen Welt, die gar nicht mehr so weit entfernt scheint.
"What's That You Say" haut wieder in die Streitkerbe, wartet mit tollen Wortspielen auf und klingt schön nach der Zukunft, die sich die Menschheit wohl in den 1980er-Jahren ausgemalt hat – Flauschig, samtig und sarkastisch mit einer Prise Synth. Auch dieses Stück wurde bereits vorausgekoppelt und Ihr könnt es bereits genießen.
Fat White Family – "What's That You Say"
Im oben bereits kurz erwähnten Stück "Work" es um den Irrsinn der Arbeitswelt und ihre Regeln. Was für einen Sinn ergibt es bitte, dass es eigentlich nur darum geht, um die richtige Uhrzeit anzutanzen und die richtigen Antworten auf alle Fragen am besten einfach auswendig zu lernen, um alle glücklich zu machen? Der Song ist übrigens tanzbar, treibend und erfreut mit Lias gehauchtem Gesang.
Der finale Song auf "Forgiveness Is Yours" beginnt verspielt. Ein Schwenk durch den Orchestergraben. Die Streicher stimmen noch ihre Instrumente. Klavier setzt ein. Die Spannung steigt. "You Can't Force It" ist ein sarkastisches Wiegenlied im Operettenstil – was für ein Abschluss für dieses fantastische Album!
Während Fat White Family an "Forgiveness Is Yours" bastelten, entstanden in den unterschiedlichsten Konstellationen auch weitere Werke der Solo- und Nebenprojekte der Mitglieder der Band. So wurde zum Beispiel Liam Gallagher bei seiner größten Soloshow in Knebworth supportet und der Kurzfilm "Moonbathing" gedreht. Lias, der sich in der Zwischenzeit als Prosaautor übte schrieb neben einer Kolumne unter anderem gemeinsam mit der Autorin Adelle Stripe an dem Buch "Ten-Thousand Apologies: Fat White Family and the Miracle of Failure". Die Kreativität sprudelt weiter ungebremst und lässt auf viele weitere Alben, Konzerte und Post-Punk-Revolutionen hoffen. Bis FWF für den nächsten Urknall sorgen, hören wir uns, sooft es geht, dieses Album an. Es ist ein echter Meilenstein und wird uns sicher für immer begleiten.
Während der turbulenten Zeit, die das neue Album brauchte, war die Band an vielen Fronten aktiv. Neben- und Soloprojekte gibt es zuhauf, sie haben "The Shawshank Redemption" auf ihren Handys via Instagram neu verfilmt, Liam Gallagher bei seiner größten Soloshow in Knebworth unterstützt, einen exquisiten, bergmännisch angehauchten Kurzfilm "Moonbathing" gedreht und im Februar vorgeführt, während Lias sich überraschend als einer der unterhaltsamsten Prosaautoren profiliert hat. Zunächst mit seiner Kolumne für The Social, 'Beyond the Neutral Zone', und dann durch die Zusammenarbeit mit der Autorin Adelle Stripe an einem der großen Rock'n'Roll-Bücher dieses oder jedes anderen Jahrzehnts, "Ten-Thousand Apologies: Fat White Family and the Miracle of Failure".
Tourdaten Fat White Family Tour 2024
Donnerstag, 25.05.2024 – Rough Trade East, London (instore)
Freitag, 26.05.2024 – Resident Music, Brighton (instore)
Sonntag, 28.05.2024 – Rough Trade, Nottingham (instore)
Dienstag, 30.05.2024 – Bear Tree Recoprds, Sheffield (instore)
Mittwoch, 01.05.2024 – Vinyl Tap, Huddersfield (instore)
Donnerstag, 02.05.2024 – Assai Records, Edinburgh (instore)
Samstag, 25.05.2024 – Levitation Festival, Angers, Frankreich
Montag, 27.05.2024 – La Cigale, Paris, Frankreich
Dienstag, 28.05.2024 – Tolhuistuin, Amsterdam, Niederlande
Mittwoch, 29.05.2024 – Doornroosje, Nijmegen, Niederlande
Freitag, 31.05.2024 – Lido, Berlin, Deutschland
Samstag, 01.06.2024 – Trix, Antwerp, Belgien
Samstag, 08.06.2024 – SWX, Bristol, UK
Sonntag, 09.06.2024 – Engine Rooms, Southampton, UK
Montag, 10.06.2024 – Tramshed, Cardiff, UK
Mittwoch, 12.06.2024 – Hangar 34, Liverpool, UK
Donnerstag, 13.06.2024 – New Century, Manchester, UK
Freitag, 14.06.2024 – Garage, Glasgow, UK
Sonntag, 16.06.2024 – Boiler Shop, Newcastle, UK
Dienstag, 18.06.2024 – Project House, Leeds, UK
Mittwoch, 19.06.2024 – Troxy, London, UK