Der Straßenmusikant
Moritat von der Straße
Er packt seine Gitarre aus. Zum Stimmen der Saiten ist heute keine Zeit. Er muss Geld verdienen. Zwanzig Euro soll er morgen früh abliefern, das bedeutet harte Arbeit.
Er stellt die alte Blechdose auf, lässt sich auf der zerlöcherten Isomatte nieder, richtet seinen Hut und beginnt zu spielen.
Die Leute laufen vorbei. Einer wirft einen brennenden Zigarettenstummel in den Becher mit Kaffee, den er sich mitgebracht hat. Sein Frühstück. Schwarzer Kaffee mit vier Würfeln Zucker. Das hält bis nachmittags vor, wenn man nicht zu sehr ans Essen denkt.
Die Blicke der Passanten gehen starr geradeaus.
Er singt
Eine Touristin kramt in ihrer Gürteltasche, zieht einen Cent heraus, sieht ihn an, als müsse sie sich von ihm verabschieden, legt ihn vorsichtig in die Blechdose und geht.
Er spielt
Die Frau gegenüber haut mit einem lauten Knall das Fenster zu.
Er singt
Ein Lieferwagen parkt zwei Meter vor seiner Nase. Der Fahrer steigt aus, schließt das Auto ab und geht.
Er zieht ein Stückchen weiter. Spielt.
Eine ältere Dame schenkt ihm ein Butterbrot.
Er grinst. Denkt an seine Großmutter in der fernen Heimat.
Es beginnt zu regnen.
Er singt.
Ein Hund hebt sein Bein an seinen Gitarrenkoffer.
Er spielt.
Die Passanten spannen ihre Schirme auf, es schüttet in Strömen. Immer hastiger sind sie unterwegs. Ihr Blick geht starr geradeaus.
Er singt.
Jodelt.
Spielt.
Tanzt.
Reißt eine Seite ab.
Wirft eine herumliegende Plastikflasche gegen eine frisch geputzte Scheibe und geht.
Unter der Brücke ist es trocken. Er wickelt das Butterbrot aus. Es ist verschimmelt.
Am nächsten Tag berichtet die Zeitung "Scheiben erneut von Randalierern verschmutzt - Wie sehr leidet das Bild unserer Geschäftsstraßen unter Schmierfinken und Hausierern?" Darunter das Bild einer Ketchup-Flasche aus Plastik.
Unter der Brücke findet er einen Gürtel. Ein Schild an einem Zeh. Namenlos.
Zwei Wochen später
Eine ältere Dame sitzt auf einem Plastikstuhl und schmiert sich das letzte Stückchen Butter auf ihr Brot. Ein Träne rollt ihr über die Wange. Keine Post von ihrem Enkel in Deutschland. Auch heute nicht.