Latte Macchiato Muttis oder: Wie sich zwei Tee-Tanten fanden
Frau von nebenan
Das tut es nämlich immer. Es kreischt, wenn es gute Laune hat, es kreischt, wenn es schlechte Laune hat, es kreischt, wenn es Deine Aufmerksamkeit will, es kreischt, wenn es ihr überdrüssig ist.
Ganz besonders kreischt es, wenn es Fastfood will. Oder, wenn es Bauchweh vom Fastfood hat. Ist Dir das schon mal aufgefallen? Am schlimmsten brüllt es, wenn es hingefallen ist. Also nicht direkt danach. Es tut sich nicht weh. Hinzufallen hat es gelernt. Es brüllt erst, wenn Du es anschaust. Daher lässt es sich auch gerne mal mit Absicht fallen. Direkt vor älteren Damen mit schweren Einkaufstüten oder vor völlig fremden Marktleuten, die es eilig haben. Findest Du das gut?
Der Fehler liegt nicht bei Dir
Der Fehler liegt natürlich nicht bei Dir. Auch wenn es inzwischen soweit geht, dass sich die Kinderlosen in der Nachbarschaft untereinander austauschen. Über neue, besonders wirkungsvolle Verhütungsmittel. Du siehst: Die Angst wächst. Besonders die des Kellners im Imbiss nebenan, der immer wieder die vollen Windeln wegräumt, die Du auf der Bestuhlung liegen lässt.
Und die der Verkäuferin an der Supermarktkasse. Wusstest Du eigentlich, dass sie sich diesen Winter schon zwei mal eine Grippe eingefangen hat, weil Dein Kind sie immer wieder feucht anniest, wenn Du es ihr auf die Kasse setzt, während Du Deine Sachen einpackst? Eigentlich ist das gar nicht erlaubt, aber sie ist einfach zu höflich, um es Dir zu sagen.
Das gilt übrigens auch für den netten Mann in der Eisdiele, der immer Deine Feuchttücher wegräumt. In der Bahn lassen sie Dich zuerst einsteigen, weil Du Platz brauchst. Du regst Dich nur darüber auf, dass es zu wenig davon gibt. Über den Jungen, der sich den Zeh brach, weil Du mit dem Kinderwagen darüber rolltest, denkst Du gar nicht nach. Du hast es nicht mitbekommen.
Du hast mir Tee angeboten
Neulich habe ich Dich das erste Mal getroffen. Ich hab Dir in der Massagepraxis die Treppe hoch geholfen. Ganz alleine mit einem Kinderwagen ist die nämlich unbezwingbar. Drinnen angekommen, hast Du Dich dann bei mir bedankt und mir einen Schluck Tee aus Deiner Termoskanne angeboten.
Du hast mich auf ein Franzbrötchen zu Dir nach Hause eingeladen. Seitdem Du den Lütten hast, bist Du oft sehr einsam. Deine Freundinnen haben andere Dinge zu tun. Sie hatten es irgendwann satt, dass Du nur über Kinder-Themen geredet hast und Dein Mann ist die ganze Woche auf Montage.
Wir haben viel geredet und Du hast mir Dein Herz ausgeschüttet. Du hast sogar ein bisschen geweint. Seit knapp anderthalb Jahren hast Du nun schon keine Nacht mehr durchgeschlafen. Felix braucht Deine ganze Aufmerksamkeit. Moment. Eigentlich ist das sogar schon etwas länger her, in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft konntest Du nämlich schon kein Auge mehr zu machen. Du wusstest einfach nicht, wie Du Dich am besten hinlegen solltest, alles tat weh und der Kleine meinte immer nachts, er muss Fußball üben.
Nacht für Nacht steht Felix in seinem Bettchen
Nacht für Nacht steht er in seinem Bettchen und weint. Du wickelst ihn, badest ihn, gehst mit ihm zum Babyturnen, und zum Kinderarzt, wischst sein Erbrochenes weg, legst ihm Wadenwickel an, wenn er wieder mal Fieber hat, liest ihm vor, kochst für ihn, singst für ihn, hörst ihm zu und läufst ihm hinterher, wenn er Dir etwas zeigen will.
Du stehst auf der Warteliste von fünf verschiedenen Kitas. Um Dich selbst konntest Du Dich schon lange nicht mehr kümmern. Beim Friseur warst Du zum letzten Mal in der 18. Schwangerschaftswoche. Dein Rücken bringt Dich um und Dein Blutzucker macht Dir echt Sorgen. Doch das alles kann warten, wichtig ist, dass es dem Kleinen gut geht. Du freust Dich über jeden Tag, den Du mit ihm gemeinsam erlebst. Jedes Lächeln von ihm ist für Dich wie ein Geschenk.
Immer diese Latte Macchiato Muttis
Weil Du an so vieles denken musst, lässt Du in letzter Zeit manchmal Sachen liegen. Neulich warst Du Mittags kurz mit dem Kinderwagen beim Bäcker und hast dort noch rasch eine Kleinigkeit an einem Stehtisch gegessen. Dabei hast Du wohl den Schnuller auf dem Tisch liegen gelassen.
Als Du am nächsten Tag wieder dort warst, hat Dich die Frau hinter der Theke dafür rund gemacht. Was Du Dir eigentlich dabei denken würdest. Überall würden diese Latte Macchiato Muttis ihre verkeimten Sachen liegen lassen. Wenn das jeder machen würde. Wo käme man denn da hin? Das war vielleicht peinlich.
Du gehst jetzt immer zu dem anderen Bäcker, eine Querstraße weiter. Dort muss man zwar ein paar Stufen runter, wenn man in den Laden will, aber dafür sind die Leute nett. Am Schnuller hast Du ein hölzernes Kettchen befestigt. Mit kleinen Herzchen drauf. Ich habs Dir mitgebracht. Zu unserer Teestunde letzte Woche. Oolong-Tee magst Du nämlich viel lieber als Latte Macchiato (Falls Du das liest, Bäckerei-Verkäuferin). Wir sehen uns jetzt häufiger und ich finde, dass Du supernett bist und Dich rührend um Deinen Sohn kümmerst.
Alle in der Geschichte vorkommenden Personen, Orte und Vorkommnisse sind frei erfunden.