Carlos Ferreira im Interview
Musikpostkarten aus Porto Alegre
Carlos Ferreira wird im November sein neues Album bei Past Inside The Present veröffentlichen. Es ist ein Tape mit dem Namen "Six Postcards & Other Stories". Ich habe mich mit ihm über seine Musik und seine Entscheidung für ein veganes Leben unterhalten.
Der Ambient/Drone Musiker Carlos Ferreira aus dem brasilianischen Porto Alegre erschafft mit seinen Gitarren-basierten Texturen Klanglandschaften. Er blickt bereits auf Veröffentlichungen mit Labels wie Assembly Field (UK), Past Inside The Present/Healing Sound Propagandist (USA), ARCHIVES (Spain), und Aural Canyon (USA) zurück.
Seine aktuellsten Werke sind die EPs "...And Then We Became Ashes" und "Quiet Reminders" (with Shuta Yasukochi). Beide Platten hat Carlos 2020 veröffentlicht.
"Das Album hat eine ganz besondere Bedeutung für mich"
Anne: Hallo Carlos! Wie geht es Dir heute? Danke, dass Du Dir die Zeit nimmst! Es ist mir eine Freude, Dich kennen zulernen!
Carlos: Hallo Anne! Die Freude ist ganz meinerseits! Vielen Dank für die Einladung!
Anne: Dein neues Album wird bald bei Past Inside The Present erscheinen. Bis Du schon gespannt?
Carlos: Sehr! "Six Postcards & Other Stories" wurde Mitte des Jahres 2019 aufgenommen. Ich habe zu diesem Zeitpunkt sehr viele Veränderungen in meinem Privatleben durchgemacht. Das Album hat also eine besondere Bedeutung für mich. Ich fühle mich geehrt, die Möglichkeit zu haben, sie bei so einem großartigen Label wie Past Inside The Present zu veröffentlichen.
"'Six Postcards & Other Stories' wurde für das Kassettenformat entwickelt"
Anne: Wann kam es zu der Idee, das Album auf ein Tape zu packen? Wird es auch eine Vinyl-Version geben?
Carlos: "Six Postcards & Other Stories" wurde von Anfang an für dieses Format entwickelt. Sogar einige der Audiosignale wurden auf Tape gemixt, genauso, wie das Album-Mastering.
Ich habe versucht, "Musikpostkarten" zu machen. Etwas, das eine Nachricht enthält und tragbar ist. Kassetten sind dafür einfach perfekt geeignet. Im Moment gibt es also noch keine Bestrebungen, eine Vinyl-Ausführung zu produzieren... Aber wer weiß?
Anne: Was denkst Du, macht in diesen schnelllebigen Zeiten die Faszination von so einfachen und haptischen Dingen wie Platten, Kassetten und gedruckten Büchern aus? Warum sind wir alle so begeistert davon?
Carlos: Ich glaube, dass unsere Faszination an diesen Dingen in der Tatsache liegt, dass sie nicht perfekt sind. Wir müssen sie pflegen, um sie zu erhalten. Kassetten und Platten machen Geräusche, sie knistern und rauschen. Sie erinnern uns daran, wie das Leben ist: organisch, endlich und nicht perfekt.
"Ich bin kein Purist"
Mit Büchern ist es dasselbe. Ich kann einfach keine E-Books lesen! Für mich ist die Leseerfahrung fest mit dem physischen Kontakt zum Papier verbunden. Mit seiner Textur. Es ist wie ein Ritual.
Ich bin aber definitiv kein Purist. Alle kreativen Möglichkeiten sind valide und sollten genutzt werden. Ich sehe oft, wie Menschen, "digitale Plugins, die alles für Dich tun" kritisieren. Ich denke, dass das dumm ist. Für mich ist die Intention wichtig. Die künstlerischen Entscheidungen, die man trifft.
Anne: Das Tape wird von handgemalten Postkarten von der Tattoo Künstlerin Fernanda Ishida begleitet. Ist sie eine Freundin von Dir?
Carlos: Ja! Sie ist ein unglaublich talentierter und freundlicher Mensch. Ich fühle mich geehrt, dass sie bei meinem Projekt dabei ist.
"Meine kreativen Prozesse sind sehr intensiv"
Anne: Wie lange hast Du gebraucht, um "Six Postcards & Other Stories" aufzunehmen?
Carlos: Um ehrlich zu sein, kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Aber ich glaube, es hat etwas über einen Monat gedauert. Normalerweise sind meine kreativen Prozesse sehr intensiv. Ich mag das Gefühl, komplett abzutauchen, wenn ich mit einem neuen Projekt beginne. Dein Gehirn fängt an in einem anderen Modus zu arbeiten und das Raum-Zeit-Kontinuum verändert sich. Es ist wie Meditation – Dein Geist und Dein Körper betreten einen ganze anderen Bewusstseinsstrom.
Anne: Dein Sound lebt von Deinen brillanten Gitarren-Improvisationen. Es klingt so, als hättest Du eine ganz besondere Verbindung zu diesem Instrument. Spielst Du alle Parts auf Deinen Platten selbst oder arbeitest Du mit anderen Musiker*innen zusammen?
Carlos: Vielen Dank für das Kompliment! Die Gitarre war das erste Instrument, mit dem ich in Kontakt gekommen bin. Ich war damals 12 Jahre alt und spürte schon diese besondere Verbindung. Aber ich mag es, die Gitarre auf eine unkonventionelle Art zu betrachten. Es ist ein elektrisches Instrument, das endlose Sound-Möglichkeiten bietet. Ich denke nicht an Tonleitern oder Akkorde. Mich interessieren die Texturen, Farben und Formen viel mehr.
"Musik machen ist wie atmen"
Ich bin auf jeden Fall der Typ für Kollaborationen! Eines der besten Dinge an der Ambient Music Community ist ihr Gemeinschaftssinn. Ich liebe es, Musik mit den unterschiedlichsten Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturen zu produzieren.
Es ist ein sehr reichhaltiger Prozess, und ich hatte großes Glück, von so vielen unglaublichen Künstlern so gut aufgenommen zu werden. Einige Freunde meinen, ich arbeite zu viel. Ich betrachte es aber aber nicht einmal als Job. Für mich klingt das fast ein bisschen abwertend. Musik machen ist für mich wie atmen. Ich muss einfach so weitermachen, wenn ich am Leben bleiben will.
Anne: Wie würdest Du Deine Musik beschreiben?
Carlos: Sound-Malereien. Ich mag es Musik nicht als etwas, das der Zeit unterliegt, zu sehen, sondern als etwas, das seine eigene Zeit hat. Das bringt mich der Idee eines Gemäldes näher, in dem Zeit etwas noch Abstrakteres und Relativeres ist.
Anne: Dein Song "Supernova" ist eine Meditation über den Verlust, die Abwesenheit und die Vergänglichkeit des Lebens. Meditierst Du viel?
Carlos: Ich würde gerne lernen auf traditionelle Art und Weise zu meditieren. Aber ich glaube, dass mein mentaler Prozess beim Musik Machen und Hören eine Form der Meditation ist.
"Die Musik hat mir geholfen, über den Tod meines Hundes hinwegzukommen"
Anne: Du hast das Stück in liebevollem Gedenken an Deinen Hund Jimmy geschrieben. Hat es Dir geholfen, über Deinen Verlust hinwegzukommen? Was hast Du daraus gelernt?
Carlos: Es hat mir auf jeden Fall geholfen. Zu der Zeit gab es für mich nichts anderes, was ich tun konnte, um über Jimmys Tod hinwegzukommen. Er hat mich aufwachsen sehen. Er war während all der Teenagerjahre bei mir. Als er gestorben ist, dachte ich "Etwas hat sich grundlegend verändert".
Tatsächlich glaube ich, dass große Verluste Dinge sind, die wir nie verwunden haben. Es sind Erlebnisse, die die komplette Weltordnung verändern. Es ist wie eine Wiedergeburt. Wir müssen alles neu erlernen. Wie wir mit unserer Umwelt leben und wie wir mit der Abwesenheit umgehen, die vorher nicht da war.
Anne: Du hast mir erzählt, dass Du Veganer wurdest, als es mit der Pandemie losging. Gratulation dazu! Was hat Dich zu dieser Entscheidung geführt?
"Wir wollten etwas gegen das Leid der Tiere unternehmen"
Carlos: Meine Frau und ich haben uns ein paar Jahre lang vegetarisch ernährt aber wir hatten es immer noch nicht hinbekommen, vegan zu werden. Für uns war das wirklich ein Ziel. Mit all den zeitlichen Möglichkeiten zu Hause während der Pandemie haben wir uns dann entschlossen, dem eine Chance zu geben und es zu versuchen. Vegan zu leben hatte für uns nie etwas mit Gesundheit (obwohl das eine Konsequenz daraus ist) zu tun. Uns ging es darum etwas gegen das Leid der Tiere zu unternehmen.
Ich finde es sehr egoistisch, zu denken, dass unsere Leben mehr wert sind, als die der Tiere. Wir leben alle zusammen auf diesem Planeten und wir müssen koexistieren.
Allmählich fangen die Menschen an zu verstehen, dass vegan sein weit über eine Gewohnheit hinausgeht. Es ist eine andere Art, die Welt zu betrachten und es ist eine kritische, politische Haltung. Als Veganer*in beginnt man, die kapitalistische Gesellschaft noch mehr infrage zu stellen. Man fängt an, dieses unverantwortliche System zu hinterfragen, das dem Profit einen Vorrang vor dem Leben einräumt.
Anne: Die Lage ist ziemlich klar. Die Tiere leiden in der Massenhaltung. Menschen sterben durch Krankheiten, die aus der Tierhaltung stammen. Der Regenwald wird abgeholzt, weil an seiner Stelle Soja für Tierfutter angebaut wird. Außerdem ist pflanzliche Kost nachweislich gesünder, als Fleisch, Milch, Eier und Co. Der übermäßige Einsatz von Antibiotika bei Tieren, die zur Nahrungsmittelerzeugung genutzt werden, wird für die Zunahme resistenter Bakterien verantwortlich gemacht. Von außen betrachtet, sieht es danach aus, als würden wir uns selbst und diesen Planeten töten. Wie ist es möglich, dass immer noch so viele Menschen die Verbindung nicht herstellen?
"Der Tierrechtsaktivismus spielt eine Schlüsselrolle in der sozialen Revolution"
Carlos: Es ist ein komplexes Problem mit sehr vielen Variablen. Sicherlich gibt es kulturelle Fragen, aber ich denke, dass die Schwierigkeit, dies zu verstehen, direkt mit der intellektuellen Gefangenschaft zusammenhängt, die durch den Kapitalismus verewigt wurde. Tausende von Menschen verhungern weiterhin jeden Tag auf perverse Weise. Das ist kein Zufall. Es ist ein Projekt.
Wenn Du Deinen Profit erhalten möchtest, brauchst Du eine verzweifelte Masse von Menschen, die konsumieren möchten. Es ist ein System, das nur durch seine Ausbeutung von Arbeiter*innen, Tieren und des ganzen Planeten bestehen kann.
Anne: Denkst Du, dass wir alle konsequenter werden müssen?
Carlos: So schnell, wie möglich.
Anne: Was können wir von Tierrechtsaktivist⋆innen lernen?
Zunächst einmal glaube ich, dass Tierrechtsaktivismus eine Schlüsselrolle in der dringend notwendigen sozialen Revolution spielt. Ich würde auch den feministischen, antirassistischen und LGBTQ+ Rights-Aktivismus hinzufügen. Das alles sind Pfeiler für eine gesellschaftliche Reorganisation. Wenn wir eine gerechtere und gleichberechtigtere Welt wollen, schaffen wir das nur gemeinsam.
2021 wird es mehrere Alben geben
Anne: Wie sehen Deine Pläne für die nächsten Monate aus? Du hast mir von einigen Kollaborationen erzählt, die 2021 produziert werden sollen?
Carlos: Es ist eine Menge los! Im Dezember werde ich auf Healing Sound Propagandist ein Album mit meinen brasilianischen Freunden Wøunds und Ely Janoville veröffentlichen. Im Moment arbeite ich an zwei weiteren Kooperationen - ein Album mit Patricia Wolf und ein weiteres mit Christina Giannone. Es ist total verrückt, weil ich sie beide total verehre!
Ich konnte es kaum glauben, als ich realisierte, dass ich Musik mit diesen großartigen Künstlerinnen machen würde. Es sind wirklich alles tolle Leute. Es wird außerdem noch eine dritte Zusammenarbeit mit meinem lieben Freund Bu.Re_ geben. Sie basiert auf Gitarren- und Piano-Improvisationen. Sie wird wirklich schön!
Neben den Kooperationen habe ich noch zwei Soloalben fertig, die veröffentlicht werden sollen. Außerdem stehen jeden Moment weitere tolle Zusammenarbeiten an. Es wird nächstes Jahr also auf jeden Fall jede Menge neue Veröffentlichungen geben. Hatte ich erwähnt, dass einige meiner Freund⋆innen mich als Workaholic bezeichnen?