"Armut ist immer noch weiblich"
Gregor Gysi zu Innenpolitik und Groko
Am Montagabend hielt Gregor Gysi im Rahmen der jährlichen Betriebsrats-Tage in München einen Vortrag zum Thema "Wie weiter? – Umdenken bei Leiharbeit und Werkverträgen". Ich war mit meiner Kamera dabei.
Die Location: Königlicher Hirschgarten in München. Berühmt für den größten Biergarten Münchens, ruhig gelegen, eingebettet in ein Wohngebiet am Rande eines Naherholungsgebietes. Natürlich um diese Jahreszeit schon "hübsch" weihnachtlich dekoriert. Ich bewundere ja immer diesen ganz besonderen Stil, der gerne von Gasthöfen dieser Art gepflegt wird, dessen Alleinstellungsmerkmal darin besteht, die jahreszeitenbezogene Dekoration so früh, wie nur möglich, über die bereits vorhandene, durchaus opulente Ganzjahresdekoration zu drapieren, um dort so lange wie möglich zu prangen und möglichst viel Staub aufzusammeln. Doch ich schweife aus.
Erstmal dinieren
Im Hirschgarten angelangt, vertiefte man sich sogleich in Gespräche rund um die Wahl, die Koalitionsverhandlungen, die bevorstehenden Betriebsratswahlen, die Speisekarte, das Wetter und den Dekostil des Gasthofs.
Zunächst wurden Speisen und Getränke gereicht, es gab Wein, Bier, Softgetränke, jede Menge Schweinebraten und Käsespätzle und zum Nachtisch eine Art Rote Grütze mit Bayerisch Creme.
Als Herr Gysi etwas verspätet eintraf, genoss auch er zunächst sein Abendessen – im Kreise der Betriebsräte, die ihn neugierig begrüßten und beim Zerlegen seines Bratenstücks schüchtern mit ihren Handykameras fotografierten.
Nachdem er gespeist hatte, trat er ohne Pause direkt an das provisorische Rednerpult, um mit seiner Rede zu beginnen.
Derzeit sieht Gregor Gysi in Deutschland noch keine Umbruchstimmung,
die sich innerhalb der nächsten vier Jahre aber durchaus entwickeln könnte. Ein Großteil der Wähler schwankte und entschied sich erst am Tag der Wahl für eine Partei. Gerade nach dem Bekanntwerden der Absprache zwischen den Regierungsparteien, keine Koalitionsangebote von anderen Parteien anzunehmen, werden immer mehr Menschen hellhörig. In den seltensten Fällen wird Umbruchstimmung durch außenpolitische Vorgänge ausgelöst.
Die längsten Koalitionsverhandlungen in der Geschichte der Bundesrepublik
haben laut Herrn Gysi eine lobbyhörige Koalition hervorgebracht, die die soziale Spaltung im Land immer mehr vertiefen wird. Im Kern wird die Politik von Schwarz-Gelb fortgesetzt. Wichtige gesellschaftliche Fragen bleiben dabei mal wieder außen vor, die soziale Ungerechtigkeit schreitet fort.
In vielen Branchen gibt es durch die Ausnahmen für Tarifverträge mit niedrigen Mindestlöhnen keinen Mindestlohn. Die erste Anpassung 2018 ist eine Farce, bei der derzeitigen Inflation kann sich jeder selbst ausrechnen, wie viel 8,50 Euro dann noch wert sein werden.
Die Bedingungen für Leiharbeiter*innen verbessern sich nicht mal im Ansatz.
Gysi beschrieb das sehr schön: "Geht es um Leiharbeit wird immer zunächst vorsichtig die Tür einen Spalt geöffnet, um Auftragsspitzen und krankheitsbedingte Ausfälle abzudecken. Ist dieser Schritt auch nur ansatzweise erfolgt, wird die Tür auch schon komplett aufgerissen und das Drama nimmt seinen Lauf." - Etwaige Betriebskultur wird also systematisch zerstört.
Besonders in kleinen Betrieben wird der Ruf nach Mitbestimmung immer lauter. Gregor Gysi sieht eine Betriebsratspflicht gerade hier ganz klar als Notwendigkeit.
Zwei Drittel der Armen in Deutschland sind Frauen,
ein Drittel Männer. Aus Angst, in die Arbeitslosigkeit zu fallen, geben sich viele mit viel weniger als ihnen zustehen würde zufrieden. "Niedriglohn ist kein Weg zum Abbau von Arbeitslosigkeit!" Die Zahl der prekär Beschäftigten steigt weiter an. 1,4 Millionen Deutsche arbeiten für einen Stundenlohn von weniger als 5 Euro. Jeder Zweite im Niedriglohnsektor Beschäftigte arbeitet in Vollzeit.
Liest man sich den Koalitionsvertrag durch,
ist einem schnell klar, dass viele Fragen mal wieder einfach offen stehen bleiben. So wird es zum Beispiel keine Begrenzung der Managergehälter geben, von Steuergerechtigkeit sind wir weiterhin weit entfernt, auf ein verbindliches Klimaschutzgesetz wird weiterhin verzichtet.
Auch an der Rente ab 67 und dem sinkenden Rentenniveau wird es keine Änderungen geben.
Die Altersarmut nimmt weiter rapide zu. Daran ändert auch die Mütterrente und die Tatsache, dass Arbeitnehmer, die 45 Jahre Beitrag bezahlt haben, vorerst mit 63 abschlagsfrei in Rente gehen können nichts. Die Lebensleistungsrente nach den heutigen Werten liegt kaum noch über der heutigen Grundsicherung und ist von den 980 Euro, die der aktuelle Sozialreport also Armutsrisikorente bezeichnet, meilenweit entfernt.
Auch am längst überholten deutsche Bildungssystem mit seiner sozialen Ausgrenzung und den 16 verschiedenen Bildungssystemen wird sich mit der großen Koalition nichts ändern, was Gregor Gysi ein besonderer Dorn im Auge ist. Insgesamt war es ein
ein sehr interessanter Abend
Man darf auf jeden Fall auf den Verlauf der nächsten vier Jahre gespannt sein, oder um es mit Gysis Worten zu sagen: "Es gibt viele Wege und Möglichkeiten. Und wir sind bereit. Auch jetzt schon." Dr. Gysi scheint auf jeden Fall klare Vorstellungen zu haben, sein Vortrag bat einen strukturieren, verständlichen Einblick in den verstrickten Politikzirkus von heute und das völlig frei von Paragraphenreiterei und Schachtelsatzungetümen.
Im Anschluss an den Vortrag gab es dann noch Autogramme, Fotos mit dem Politiker und die Möglichkeit persönliche Fragen zu stellen. Auch ich konnte ein Foto mit ihm machen, das bleibt allerdings in meinem privaten Archiv.