"100.000 Whys"
Das neue Album von Wang Wen
Die wohl bekannteste chinesische Post-Rock-Band Wang Wen ist jetzt bei Pelagic Records und mit dem Umzug zum neuen Label kommt standesgemäß irgendwann auch ein neues Album. "100.000 Whys" erscheint offiziell am 24. November und schlägt voll in die Vintage-Kerbe – ohne dabei wehmütig zu werden. Euch erwartet qualitativ hochwertiger Sound und eine gefühlvolle Klangerfahrung.
Die stark gefilterten Synthesizer und ausgefransten Bass-Spuren sorgen für einen Hauch 1970er Jahre – trotzdem ist hier gar nichts blumig, kitschig oder überladen. Wang Wen verstehen sich auf den Einsatz ihrer Instrumente und sie nutzen viele davon.
Schicht um Schicht baut sich beim Hören ein elektrifiziertes Meisterwerk auf und ich wünsche mir sofort diese Klangkünstler*innen möglichst bald live auf der Bühne erleben zu dürfen.
Wang Wen machen soundtechnisch niemandem etwas vor
Wang Wen – "100.000 Whys"
Die Wahrscheinlichkeit, dass Ihr von Wang Weng schon mal etwas gehört habt, ist ziemlich hoch. Schließlich gibt es die Band schon seit mehr als 20 Jahren. Sie gründete sich 1999 Dalian. Wenn Ihr Euch die Zeit nehmt, Euch ein bisschen durch ihre Tonträger aus den verschiedenen Ären zu hören, werdet Ihr vielleicht mit Erstaunen feststellen, wie unterschiedlich sie sind. Jede Platte zeichnet ein Bild der jeweiligen Phase, die Wang Wen zum Zeitpunkt der Aufnahmen gerade durchlebten. Derzeit befinden sie sich auf einer gedachten Treppe auf einer besonders hohen Stufe – soundtechnisch macht dieser Band ganz sicher niemand was vor.
Der überraschende Opener mit seinen fantasievollen Spinett-Klängen öffnet die Tür in das Wunderland der Soundbastler. Orgeltöne, ein gewaltiges Schlagzeug und Präzisionsarbeit an den Saiteninstrumenten legen dann den Keil rein und leiten nach entspannten 6:52 zum nächsten Akt über.
"The Ghost" lauert hinter der nächsten Ecke und jagt mir einen angenehmen Schauer über den Rücken. Höre ich eine Flöte? Mir gefällt dieser Song besonders gut, weil er mich an die Detektivfilme erinnert, die ich mir früher so gerne angesehen habe. Das vorerst schleppende Tempo wird von der Rhythmus-Sektion zu einer mannigfaltigen Wand aufgebaut, die sich anschließend aus allen verfügbaren Tonquellen entlädt.
"100.000 Whys" bietet ein musikalisches Feuerwerk nach dem anderen
"Wu Wu Road" ist angenehm verspielt und luftig. Hier kommt auch der Spinett-Sound vom Intro wieder zum Einsatz – an dieser Stelle allerdings gekonnt verknüpft mit wundervollen Retro-Orgel-Sounds. "If Tomorrow Comes" startet nachdenklich und zurückhaltend, entwickelt sich jedoch schnell zu einem weiteren musikalischen Feuerwerk. Jazzy Drums halten sich im Hintergrund. Im Mittelpunkt stehen hier, genau, wie beim nächsten Stück "A Beach Bum" eher die elektronischen Klänge. Was dieser Song zum Ausdruck bringen soll, kann ich nur erahnen. Für mich klingt er wie ein ausgedehnter Tag am Strand – mit ausgelaufener Sonnenmilch, Loch im Strohhut und warmen Getränken unter dem Sonnenschirm.
"Lonely Bird" geht fast ein bisschen in Richtung Indie. Das zunächst sanft gestreichelte Schlagzeug, das Glockenspiel und die hier führende Gitarre harmonieren perfekt. Zum Schluss gibt es dann an den Drums nochmal auf die Zwölf und sogar noch ein paar anmutig verzerrte Saitenklänge – schön!
Mit einer Flöte startet "Shut Up And Play" wieder nachdenklich und zurückhaltend, um dann verspielt weiter zu wandern, wie ein Weg entlang eines plätschernden Bachs. Die zweite große Rolle in diesem Akt spielt eine Harmonika, die schließlich die Melodieführung übernimmt und sie nach etwa zwei Minuten wieder übergibt. Ab Minute fünf wird es dann spannend, der Höhepunkt der Geschichte kündigt sich an.
Die Details gehen nie aus
Wang Wen
Den Schluss macht "Forgotten River". Auch hier starten die Bilder im Kopf ganz ohne den Gebrauch von Lyrics. Das klassische Post-Rock Stück ist möglicherweise das Schönste auf dieser Platte. Ich kann mich leider noch nicht ganz entscheiden. Es gibt einfach so viele fantastische und vielseitige Momente darauf, dass ich vermutlich beim hundertsten Hördurchgang immer noch auf neue Highlights stoßen werde. Meine Empfehlung, auch nach ihnen auf die Suche zu gehen, habt Ihr. Wie gesagt erscheint das Album offiziell am 24. November – Ihr könnt es auf den Streaming-Plattformen jedoch jetzt schon hören. Fans von Mono, Radare, Ef, Godspeed You! Black Emperor und Caspian werden hier auf alle Fälle glücklich.
Zwischen ihren Aufnahme-Sessions und der Veröffentlichung von "100.000 Whys" veröffentlichten Wang Wen die Dokumentation "Seven Thousand Hows". Der Film zeigt die Band auf einer dreitägigen Nepal-Reise, während der sie an einem Benefizkonzert für die Opfer des Erdbebens von Gorka im Jahr 2015 teilnahmen. Bandleader Xie Yugang fand auf der Bühne der Purple Haze Rock Bar in Kathmandu folgende inspirierenden Worte:
"Wenn die Menschen über Musik, Frieden und Liebe sprechen, ist das ein Zeichen. Wir spielen Musik, um daran zu erinnern, dass Du ein Mensch bist und keine Bestie. Du bist anders als die Bestie."
"I Keep Six Honest Serving Men"
Der Titel ihres inzwischen elften Albums ist von Kiplings Gedicht "I Keep Six Honest Serving Men" inspiriert. Er soll die kollektive Verwirrung widerspiegeln, die durch den Ausbruch von COVID-19 weltweit ihren Lauf nahm und die Beschränkungen, die von der Regierung als Reaktion darauf eingeführt wurden.
Als die Pandemie losging, wurden Wang Wen, die gerade ihr Material fertig hatten, in ihrer Heimatstadt Dalian im Norden von China eingesperrt. Sie beschlossen also kurzfristig, die Aufnahmen für "100.000 Whys" nicht wie geplant in St. Petersburg, sondern daheim in ihrem Proberaum zu machen.
Die insgesamt acht Songs auf der Platte bringen alle Gefühle zum Ausdruck, die sie in dieser Zeit durchlebt haben müssen – und so viel mehr. An Vielseitigkeit und Experimentierfreudigkeit ist die Band kaum zu überbieten und mit diesem Tonträger hat sie ein ganz besonderes Highlight ihrer Karriere abgeliefert.