We Lost The Sea
"Post-Rock löst Grenzen auf"
Zum Start in 2021 habe ich eine ganz besondere Sensation vorbereitet. Vor Kurzem habe ich über Social Media Mark Owen von We Lost The Sea kennengelernt. Er fragte mich nach einem Interview und voilá: hier ist es!
Könnt Ihr Euch vorstellen, einen Eurer absoluten Lieblings-Musiker zu interviewen? Alles was Euch jetzt durch den Kopf schießt: Genau so ist es mir gegangen. Vor lauter Freude, war ich kaum dazu in der Lage meine Fragen möglichst knapp zu halten. Wie Ihr Euch denken könnt, ist dieser Artikel daher durchaus etwas länger geworden. Lesen lohnt sich natürlich ganz besonders. Mark hat nicht nur völlig offen über die Bandgeschichte und die Pläne von We Lost The Sea gesprochen. Er hatte auch noch Musiktipps für mich, die ich heute mit Euch teile.
Anne: Vielen Dank für dieses Interview! Ich bin so gespannt, eine meiner absoluten Lieblingsbands näher kennenzulernen! Wie geht es Dir heute? Wie ist es im Moment in Sydney? Bist Du dort im Moment?
Mark: Vielen Dank für Deine Einladung! Mir geht es gut, ich mache gerade Mittagspause bei der Arbeit. Es ist alles in Ordnung. In Sydney ist es wie an vielen anderen Orte auf der Welt im Moment. Es ist alles ein bisschen komisch, aber man kann eigentlich nicht viel mehr tun, als es zu akzeptieren und zu versuchen, sich zu schützen, vermute ich. Wir leben alle im weiteren Umkreis von Sydney, zwei von uns ungefähr 150 entfernt. Wir sind also ziemlich weit verstreut und haben schon lange keine Zeit mehr zusammen verbracht. Die paar Male, die es geklappt hat, waren lustig. Wir haben an vier Abenden vier Shows in unserer Lieblings-Location gespielt. Das hat wirklich Spaß gemacht!
Anne: Leider musstet Ihr Eure 2020 Tour verschieben. Was macht Ihr stattdessen? Arbeitet Ihr an neuen Songs?
"Wenn wir nicht touren können, veröffentlichen wir eine neue Platte"
Mark: Wir mussten alles verschieben und genau wie alle anderen sind wir ziemlich niedergeschlagen deswegen. Zu unserem Glück leben wir nicht vom Touren, es ist also OK. Mir tun die Bands leid, denen es so geht. Wir kennen sehr viele von ihnen und sie machen eine wirklich harte Zeit durch. Das Schreiben geht eher langsam los, aber Matt und ich haben Ideen hin und hergeschickt. Wir hatten außerdem ein echt starkes Wochenende mit Tim Carr, der "Departure Songs" mit uns aufgenommen hat, in einem Studio verbracht. Wir haben angefangen, an neuem Stoff zu arbeiten und wir freuen uns alle sehr darauf, uns noch tiefer ins Songwriting zu stürzen. Falls wir dieses Jahr wieder nicht auf Tour gehen können, können wir stattdessen hoffentlich eine neue Platte veröffentlichen!
Anne: Plant Ihr 2021 nach Europa zu kommen?
"Wir können es nicht erwarten, wieder in Europa zu spielen"
Mark: Wir haben unsere 2020 Tour umgeplant und ich denke, dass wir, genau wie alle anderen, warten, wie es weitergeht, bevor wir etwas bekannt geben. Im Moment gibt es für Australien nach wie vor Reisebeschränkungen, wir könnten also hier nicht mal weg, wenn wir es wollten. Ich kann mir im Moment noch nicht vorstellen, dass wir 2021 wieder auf der Bühne stehen werden. Aber lass uns die Daumen gedrückt halten. Ich kann es nicht erwarten, wieder nach Europa zu kommen.
Anne: Die Post-Rock Szene ist ziemlich vertraut – Alle sind miteinander verbunden und die wenigen Labels pflegen einen offenen Kontakt. Events wie das Dunk!festival fühlen sich wie große Familientreffen an. Warum ist das in dieser Szene möglich? Was unterscheidet Post-Rock von anderen Genres?
Mark: Das ist eine schwierige Frage. Ich denke, Post-Rock ist eine ziemliche Nische und Menschen, die ihn lieben, lieben ihn WIRKLICH und kennen sich damit aus – Es ist also keine Überraschung, dass sich da eine ziemlich enge Online Community gebildet hat. Ich denke, das Genre versucht, so inklusive wie möglich zu sein. Es fühlt sich wie eine Szene an, in der Menschen sich wirklich nur an der Musik erfreuen und nicht so sehr an der sogenannten "Szene". Ich sehe immer noch ziemlich dummen und belanglosen Scheiß auf Facebook. Aber es sind schließlich Menschen, oder?
Anne: Ich habe Euer Konzert auf dem Dunk!festival 2017 sehr genossen. Ihr seid damals mit einigen australischen Post-Rock-Bands dort aufgetreten. Das waren viele unvergessliche Konzerte. Ich werde dieses Wochenende niemals vergessen. Konntet Ihr seitdem eine Verschiebung Eurer Fan-Basis erkennen? Habt Ihr jetzt mehr Fans hier drüben in Europa?
"Das Dunk!festival war eine großartige Erfahrung"
Mark: Das Dunk! war unsere allererste Tour-Erfahrung in Übersee. Unsere erste Show außerhalb von Australien. Es war für uns etwas ganz Besonderes. Es war die Belohnung für eine Menge harte Arbeit. Eine Menge Herzschmerz und viele viele gute und schlimme Jahre. Es war so eine großartige Erfahrung und die Europa-Tournee die darauf folgte, war wohl eine der besten Zeiten meines Lebens. Wir waren so überwältigt davon, überall Leute zu treffen, die unsere Musik mögen. Wir haben uns mit so vielen Menschen aus so vielen Ländern unterhalten und so viele Geschichten ausgetauscht. Ich denke, aus einer pragmatischen Sichtweise hat es uns dabei geholfen, unsere Fan-Basis zu vergrößern. Wenn ich es von der persönlichen Seite aus betrachte, hat es uns darin bestärkt, dass es richtig ist, was wir tun. Wir haben jede einzelne Minute davon genossen.
Anne: Wie würdest Du Eure Beziehung mit Dunk!records beschreiben?
Mark: Wir lieben Dunk! Wout und Luc und sie alle sind wie eine Familie für uns. Jede*r, den*die wir jemals von Dunk! getroffen haben oder mit dem*der wir zu tun hatten, ist so freundlich und hilfsbereit. Sie sind so begeistert von unserer Band und davon, was wir machen. Sie haben einfach so eine wundervolle, positive Einstellung. Ich kann mir nicht vorstellen, in Europa jemals mit jemand anderem zusammenzuarbeiten. Sie machen sich Gedanken um die Band, ihre Fans und das Festival. Sie nehmen Rücksicht auf das Soziale und die Umwelt – sie sind einfach die Besten.
Anne: Ihr wart in Australien, Europa und China auf Tour. Ich kann mir vorstellen, dass das ziemlich kontrastreich und aufregend sein kann. Würdest Du sagen, dass sich die Musikszenen auf den einzelnen Kontinenten sehr voneinander unterscheiden?
"Wir wollen mit unserer Musik Menschen verbinden"
Mark: Die Musikszenen sind sehr unterschiedlich und sich auf eine Art auch wieder sehr ähnlich. Ich glaube, die Schönheit, instrumentale Musik zu spielen liegt darin, dass sie alle Arten von sprachlichen Grenzen aufhebt. Überall auf der Welt reagieren die Menschen auf dieselbe Art auf unsere Musik. Es gibt ein paar große Unterschiede im Sozialverhalten. Die Art, wie Gigs funktionieren und das ganze Drumherum. Aber am Ende des Tages ist es immer noch eine Band, die Musik spielt und sich mit den Menschen verbindet.
Anne: Welche Post-Rock Events würdest Du außer dem Dunk!festival noch empfehlen?
"Wir würden gerne auf dem ArcTanGent spielen"
Mark: Alle! Ich vermute, alle von ihnen kämpfen im Moment ums Überleben. Wir träumen davon, eines Tages auf dem ArcTanGent zu spielen. Ich würde unglaublich gerne in den Staaten auf dem POST spielen, auf dem After Hours in Japan, auf dem Bergmal, auf dem Post in Paris – Ich will überall hin! Ist Glastonbury ein Post-Rock Festival? Es sollte eins sein!
Anne: Kommt bitte zum ArcTanGent! Ich würde Euch so gerne dort treffen! Ich bin auch ein Fan Deiner Glastonbury Post-Rock Festival Idee. Die Landschaft ist dort so wunderschön. Es würde so perfekt passen. Sollten mehr Menschen Post-Rock hören?
Mark: Ja! Bitte kauft unsere Platten, damit ich weiter auf Tour gehen kann! Wie Phoebe Bridgers gesagt hat: "Das Einzige, was schlimmer ist, als Touren, ist nicht zu Touren". Ehrlich gesagt glaube ich aber, dass viele Leute Post-Rock hören, ohne es zu ahnen. So viele Filme, Fernsehsendungen usw. verwenden Post-Rock-Musik und die Leute konsumieren sie, ohne es aktiv zu wissen. Wenn wir nur fünf Prozent der Menschen auf die Bands aufmerksam machen können, die sie hören, wäre das Leben für viele Bands komplett anders.
Anne: Das ist so wahr. Ich habe mir das schon so oft gedacht. Ihr habt We Lost The Sea 2007 gegründet. Was hat sich seitdem geändert?
"Wir sind leidenschaftliche Geschichten-Erzähler"
Mark: Es hat sich so viel verändert! Ich war 2007 noch ein Baby. Es ist so viel Leben passiert seitdem. Für uns alle. Wir haben zusammen einige wirklich tolle Erfahrungen gemacht und auch wirklich schreckliche. Neben dem Offensichtlichen, dem Verlust von Chris, hatten wir mit einer Menge persönlichen Problemen zu kämpfen. Gesundheitlichen Problemen, den Herausforderungen des Alltags eben. Inzwischen befinden wir uns in einer wirklich glücklichen und guten Position. Ich hatte die Möglichkeit, die Welt zu sehen und mit so vielen tollen Menschen Musik zu machen.
Es fühlt sich manchmal so an, als hätte ich sechs Freundinnen. Wir kämpfen und zanken und gehen uns gegenseitig auf die Nerven. Die sechs Kerle (inklusive unserem Sound-Mann Mikey) sind für mich wie eine Familie. Was sich nicht verändert hat, ist unsere Leidenschaft, mit Musik Geschichten zu erzählen, die Menschen mit auf eine Reise zu nehmen und mit Herzblut Musik zu machen.
Anne: Erzähl mir von Euren Vorbildern. Welche Bands/Musik mögt Ihr am liebsten? Welche Künstler⋆innen hatten den größten Einfluss auf Eure Arbeit?
"Der erste Teil von 'Parting Ways' ist von Gospel beeinflusst"
Mark: Wir bringen alle so unterschiedliche Blickwinkel mit. Wenn es darum geht, Musik für We Lost The Sea zu schreiben, versuche ich Inspiration aus den verschiedensten Bereichen zu ziehen. Das sind dann zum Beispiel die Nick Cave und Warren Ellis Soundtracks, Hans Zimmer, GY!BE, Cult of Luna, Sigur Rós, Radiohead, Queen, Pink Floyd und Soul und Gospel Klassiker. Die Einflüsse kommen aus allen Ecken. Der erste Teil von "Parting Ways" ist stark von einem evangelikalen Gospel Album beeinflusst, das ich durch Zufall gefunden hatte. Also wirklich aus allen Ecken.
Anne: Hast Du schon immer Musik gemacht? Gab es Projekte vor We Lost The Sea?
Mark: Ich habe während meiner frühen Teenager-Jahre angefangen, Gitarre zu spielen. Seit diesem Zeitpunkt hat sich für mich alles nur noch um Musik gedreht. Das bedeutet nicht, dass sie gut war. Ich habe in einer schrecklichen Metal Band Schlagzeug gespielt. Ich dachte, dass sie gut ist. Bis zu dem Tag, als ich in die Bandprobe von Matt, Carl und D'Ugo gegangen bin. Sie nannten sich "Omeratá" und ich erinnere mich daran, dass ich mich in ihre Probe geschlichen und diesen Song namens "Left to settle" gehört habe. In diesem Moment hat sich alles verändert. Ich entschied, die Drums an den Nagel zu hängen und mich auf die Gitarre zu konzentrieren.
Dann ging alles sehr schnell. Unser Bassist Kieran und zwei unserer früheren Gitarristen spielten in einer Band namens "Sound the Mute". Sie waren echte Wunderkinder. Sie spielten überall in Sydney Bands mit weitaus erfahreneren Musiker⋆innen von der Bühne. Chris musste damals wegen seines Alters immer wieder lügen oder es verheimlichen, bis er es auf die Bühne geschafft hatte.
Deine Leser⋆innen finden die beiden Bands hier:
Anne: Euer letztes Album "Triumph and Disaster" von 2019 ist eine der besten Platten, die ich jemals gehört habe. Jedes Mal, wenn ich sie auf den Plattenspieler lege, entdecke ich neue Details. Was ist die Geschichte dieser LP?
"Wir sind stolz auf 'Triumph and Disaster'"
Mark: Vielen Dank. Wir sind unglaublich stolz darauf. Es war eine ziemliche Schinderei, das zu schreiben. Es bedeutet also eine Menge für uns, wenn sie bei den Leuten ankommt. Wir hatten ganz schön Angst nach "Departure Songs". Wir wollten etwas mit Herz machen. Der Story eine Seele geben. Wir beschäftigen uns alle sehr viel mit dem Klimawandel und der Zerstörung, die wir unserem Planeten antun. Wir dachten, wir könnten eine Erzählung dazu nutzen, die Aufmerksamkeit auf dieses Thema zu lenken. Gleichzeitig wollten wir eine Geschichte erzählen, die bei den Leuten ankommt. Es ist also gleichzeitig eine Geschichte über das Ende der Welt, über Liebe, Hoffnung und die Lieber einer Mutter zu ihrem Kind.
Anne: Wer ist die Frau, die Eurer Platte "The Quietest Place On Earth" von 2012 im Stück "Forgotten People" ihre Stimme geliehen hat?
Mark: Sie heißt Bel und ist Carls Frau! Als ich diesen Song am Klavier geschrieben habe, hatte ich eine bestimmte Vorstellung davon, wie er klingen sollte. Bel kam rein und machte einen Vorschlag, der besser war, als ich jemals zu träumen gewagt hatte. Sie schreibt Songs und singt in einem Projekt names "Olive".
Ihr könnt Euch ihre Musik hier anhören:
Anne: Eure Musik ist sehr vielseitig. Ich liebe diese Räume dazwischen. Du weißt schon, diese Phasen zwischen der Ruhe und den harten Parts. Man spürt schon, dass jeden Moment etwas passieren wird, dass Dich komplett in seinen Bann ziehen wird. Wie kommt Ihr auf diese Ideen? Was inspiriert Euch, wenn Ihr Musik komponiert?
"Wir wollen unsere Hörer⋆innen auf eine Reise schicken"
Mark: Wir versuchen, Musik zu machen, die Energie hat, Spannung, etwas Kinematografisches, etwas, das die Aufmerksamkeit auf sich zieht, das Dich aufsaugt. Wir wollen, dass Du mit uns auf die Reise gehst und dort ankommst, wo auch wir ankommen.
Zuallererst sind wir Leute, die Musik und das Musizieren und Komponieren lieben. Das würden wir vermutlich auch tun, wenn niemand zuhören würde – obwohl ich natürlich ziemlich froh bin, dass die Leute das tun.
Wir versuchen also, Musik zu machen, die uns gemeinsam begeistert. Wir schreiben, was wir mögen und was wir selbst hören möchten. Das bedeutet manchmal, dass wir durch die schiere Anzahl der Band-Mitglieder bei einer Idee Kompromisse eingehen. Manchmal beißt sich auch mal jemand fest und kämpft für seine Idee. Diese Spannung schafft einen interessanten Raum für Kreativität. Die Kehrseite ist, dass spontane Ideen manchmal zur Hauptidee werden oder die komplette Richtung einer Idee verändern können. Ich denke, wenn man offen für etwas ist und versucht, sich nicht zu schnell zu verschließen, kommt man immer auf einen gemeinsamen Nenner.
Anne: Sind Eure Proben mehr wie große Jam Sessions oder seid Ihr mehr für einen strukturierten und klar skizzierten Prozess?
"Am wichtigsten ist das Gefühl"
Mark: Ehrlicherweise starren wir uns manchmal einfach wie fassungslose Fische an. Am meisten Spaß haben wir, wenn wir vor dem Proberaum stehen, Bier trinken und uns zusammen kaputt lachen. Wir bleiben gerne entspannt. Wenn wir wie so oft eine einzelne Idee aufdröseln, sind wir völlig offen dafür, einfach darauf sitzen zu bleiben und sie bis zum Erbrechen immer wieder zu spielen, bis sie anfängt, gut zu klingen.
Das Gefühl ist das Wichtigste. Wenn sich ein Song nicht gut anfühlt, wird er auch nie gut klingen. Es ist immer eine Menge harte Arbeit und wir überdenken und analysieren alles. Wir brechen es aber immer darauf herunter, wie es sich beim Spielen anfühlt.
Anne: Wie viele andere Post-Rock Fans auch, stehe ich ziemlich auf Vinyl. Ich kann das Gefühl nicht in Worte fassen, das ich habe, wenn ich ein Album auspacke und zum ersten Mal auf den Plattenspieler lege. Geht es Dir auch so? Was ist das, das uns in dieser schnelllebigen Zeit diese einfachen Dinge so genießen lässt?
"Ich liebe Vinyl"
Mark: Ich liebe das Vinyl-Format. Ich liebe es, mir das schöne große Artwork anzusehen und ich liebe das Gefühl so ein greifbares Produkt in der Hand zu halten. Matt macht so einen großartigen Job mit unseren Artworks und Dunk! und Translation Loss unterstützen seine künstlerische Vision so sehr, dass es wirklich keinen besseren Weg gibt, unsere Musik zu konsumieren.
Anne: Was steht als Nächstes an für We Lost The Sea?
Mark: Also, wenn sich die Welt irgendwann wieder öffnet, werden wir vermutlich ein bisschen touren. Aber ich sehe das im Moment noch nicht wirklich. Wir werden also vermutlich ein paar lokale Shows in Australien spielen und uns weiter aufs Schreiben und Aufnehmen konzentrieren.