Gedanken am Fenster
Erst bist du auf die Welt gekommen, dann hast du dich verliebt.
Es hat eine ganze Weile gedauert, bis du das verstanden hast. Da war diese Mauer aus kaltem Stein. Der Stein, der sich löste. Er traf dich hart. Verletzte dich. Die Wunde war tief. Aber der fehlende Stein gab auch einen Durchgang frei. Schmal zwar, aber groß genug, um dich hindurchblicken zu lassen. Das gab dir Raum, dich zu entfalten.
Vom Leben gelernt, dachtest du. Aber eigentlich war es doch ganz anders, musste doch das Leben auch dich zunächst erst mal kennen lernen. In verdrehten Situationen wird dir das bewusst. Im Stau auf der Autobahn, die blinkende Reserveleuchte vor deinen Augen, im Hinterkopf das Gefühl, dass du jetzt gleich Gewissheit haben wirst. Tod oder lebendig. Ein Jahr oder tausend Jahre. Jeden Tag solltest du genießen, ihn erleben, wie einen ganz besonderen Tag, wie den Beginn vom Rest deines Lebens. Denn das ist er. Das ist jeder Tag. Deinem Lebensmotto entspricht das schon seit langem. Aber hast du bis jetzt auch wirklich danach gelebt?
Jetzt sitzt du da, draußen stürmt es, das Fenster schlägt gegen den Rahmen, aber du schließt es nicht. Du möchtest dem Gewitter zuhören, es in deine Erinnerungen aufnehmen. Du benetzt deine Lippen, wirfst einen Blick auf die sich biegende Fichte gegenüber und nimmst einen Schluck von dem Kaffee, auf den du jetzt nicht mehr verzichtest.
Du blätterst ein Tagebuch von vor zwei Jahren durch. Seit dem hat sich einiges geändert, stellst du fest. Schleichend. Im Februar 10 Zahnarzttermine, Kaffeehausbesuche mit mit einer Freundin, die dich seit sie studiert nicht mehr kennt, Doktor Faust im Kukuksheim, Calexico live im Roxy, zwei mal die Woche Kino, alle vier Wochen ein Konzert. So ein Buch gibt es nahezu von jedem Jahr. Gesammelte Erinnerungen. Das erinnert Dich ein bisschen an die Maus aus der Geschichte, die die Farben für den Winter sammelt. Du beschließt, nicht weiter bis zum Winter zu warten.