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    "Riffs sind wie Puzzleteile"

    Fantin Reichler von DRLCT über sein Album "Médéé"

    Interview von Anne
    04.09.2024 — Lesezeit: 7 min
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    "Riffs sind wie Puzzleteile"
    Bild/Picture: © Fantin Reichler

    Fantin Reichler (The Kompressor Experiment, Méandre) Projekt DRLCT habe ich Euch hier vor Kurzem bereits im Rahmen meiner Review seines Albums "Médéé" vorgestellt – einer Platte, die von Trauer und Abschied handelt, aber auch Hoffnung gibt. Jetzt hatte ich das Glück, mich mit dem zu unterhalten. Im Interview hat er mir zahlreiche Details über seine Musik und sein Leben verraten.

    Anne: Hi Fantin! Danke, dass Du Dir die Zeit nimmst! Wie geht es Dir? Woran arbeitest Du gerade?

    Fantin: Hi Anne! Danke für Deine Einladung! Ich arbeite an der Release-Party für mein neues Album. Es ist eine Menge Arbeit, aber es macht sehr viel Spaß.

    Anne: Ich finde es so cool, dass es eine Vinyl-Version von "Médéé" geben wird. Du hattest das Album ja bereits im Mai veröffentlicht. Die Platte verdient es, in dieses wunderschöne, physische Format gebracht zu werden und in den Plattenregalen der Leute zu landen – und auf ihren Plattenspielern natürlich! War das mehr eine spontane Idee von Dir oder hattest Du von Anfang an vor, das irgendwann zu machen?

    Fantin: Erst mal vielen Dank für Deine Komplimente zu meinem Album. Es geht direkt ins Herz, weil es eine wirklich sehr wichtige Platte für mich ist. Es war eine spontane Idee, weil das auch das gesamte Konzept ist: Für mich war es eine echte Möglichkeit, mit meiner Trauer umzugehen und am Ende ist eine komplette Veröffentlichung dabei herausgekommen. Nichts folgte einem Plan, aber ich bin froh, wie es sich entwickelt hat.

    Anne: Würdest Du sagen, dass Du insgesamt eher eine spontane Person bist oder planst Du lieber alles im Vorfeld? Bei Musik ist das so faszinierend zu beobachten: Manche Künstler*innen arbeiten lieber mit einem großen, alles umfassenden Konzept und andere lassen sich lieber einfach treiben und finden alles nach und nach heraus, wenn sie sich danach fühlen. Beide Typen schaffen es, die inspirierendste Musik zu komponieren. Findest Du nicht?

    "Spontanität und Kontrolle liegen nah beieinander"

    DRLCT – "Médéé"
    DRLCT – "Médéé"

    Fantin: Ich denke, ich befinde mich irgendwo zwischen diesen beiden Welten. Sobald ich einen interessanten Riff oder eine Melodie im Kopf habe, öffne ich meine Voice-Recording-App und spiele die Idee auf einer Gitarre, einem Synth oder summe sie einfach. Manchmal ist es super und führt zu Songs, auf die ich stolz bin und manchmal wird nichts daraus. Wenn ich eine passable Menge "guter" Riffs habe, arrangiere ich sie wie Puzzleteile. Ich versuche es zu schaffen, dass sie in verschiedenen Reihenfolgen zusammenpassen und sich aneinander orientieren. Das ist mein Lieblingsteil am Musikmachen. Alles läuft einfach vor sich hin und es macht einen sehr glücklich, das "perfekte" Arrangement zu finden. Wenn ich dann mit der finalen Form des Songs zufrieden bin, bleibe ich dabei und spiele ihn genau so, wie ich ihn geschrieben habe. Also zuerst spontan und später dann der komplette Kontrollfreak.

    Anne: Du hast die vier Songs auf "Médée" für Deine Mutter geschrieben, die traurigerweise vor Kurzem verstorben ist – mein herzliches Beileid nochmal.

    Mit der Aufnahme dieser Tracks hast Du aus einer der dunkelsten Phasen Deines Lebens etwas wirklich Schönes erschaffen, das für immer ist. Es hat Dir auch dabei geholfen, mit dem Schmerz ihres Verlusts umzugehen, kann ich mir vorstellen.

    Kreative Prozesse können ein sehr starkes Werkzeug sein im Umgang mit Zeiten, die wir durchleben – von den traurigen und schweren bis zu den fröhlichen und leichten. Haben Dir das Schreiben von Songs und Deine Kreativität insgesamt schon immer dabei geholfen, Dinge zu verarbeiten?

    Fantin: Danke für Deine lieben Worte. Normalerweise mag ich es nicht, meine Gefühle in den Vordergrund zu stellen oder zu zeigen, weil ich mich nicht beschweren möchte. In der Regel möchte ich nicht, dass meine Songs spezifische Emotionen oder Schwierigkeiten, mit denen ich zu tun habe, widerspiegeln. Aber Musik und ein breiteres Feld der Kreativität sind definitiv eine treibende Kraft in meinem Leben. Sie geben mir eine Bedeutung und eine Richtung – sogar in düsteren Zeiten. Und ja, die letzten paar Jahre waren für mich definitiv düstere Zeiten.

    Anne: Musik und andere Formen der menschlichen Kreativität helfen uns, Erlebtes zu verarbeiten und weiterzumachen. Hat Dir "Médéé" auch geholfen, weiterzumachen?

    Fantin: Ich bin mir nicht sicher, ob ich darauf mit einem definitiven "Ja" antworten kann. Die letzten Monate im Leben meiner Mutter waren davon geprägt, sie dabei zu unterstützen, auf die friedlichste, mögliche Art und Weise sterben zu können. An dem Tag, als sie gestorben ist, hatte ich das Gefühl, dass ich nichts mehr übrig habe. Ich habe dieses schwarze Loch der unendlichen Trauer gespürt. Dieser endlose Abgrund hat mein Inneres nach außen gekehrt und ich konnte in diesem Moment nicht den Mut fassen, mich damit auseinanderzusetzen. Alles, das ich für die dann folgenden zwei Wochen tun konnte, war Musik zu schreiben, bis ich irgendwann nicht mehr wach bleiben konnte.

    Vier Songs sind aus diesem Chaos entstanden. Jeder davon repräsentiert einen Aspekt der letzten Tage meiner Mutter: Sie haben eine spezifische Bedeutung für mich und es ist ein Weg für mich, meine Mom niemals zu vergessen – Zeitkapseln ihrer letzten Momente. Am Ende gab mir diese Platte eine Sinnhaftigkeit. Sie ist mein Weg, meine Mutter nicht gehen zu lassen – zu vergessen, dass sich ihr Kampf wie ein Betrug an ihr anfühlt.

    Anne: Auf Abschiede folgen Neuanfänge. Was war das Erste, was Du getan hast, nachdem Du dieses wunderbare Album finalisiert hattest? Hat es sich für Dich mehr wie ein Abschied angefühlt oder wie ein Neubeginn?

    "Wir arbeiten im Moment an Live-Versionen der Songs"

    Fantin: Als ich die vier Songs fertig hatte, wusste ich nicht, was ich damit machen sollte. Ich habe sie mit meinem Bruder und einigen Musikerfreund*innen geteilt und ihnen erklärt, wie sie entstanden waren und warum ich sie geschrieben hatte. Sie haben mich alle darin bestärkt, zu versuchen, sie in Form eines Albums zu veröffentlichen. Ich werde ihnen niemals genug dafür danken können, dass sie mich in dieser Zeit so unterstützt haben. Sechs Monate später saß ich im Studio und habe das Album aufgenommen und kurze Zeit danach habe ich mich online mit Animationskünstler*innen über die Produktion eines Musikvideos zu jedem der Stücke ausgetauscht. Jetzt kommt noch eine Veröffentlichung im physikalischen Format dazu und wir werden diese Songs bald live spielen.

    Wir arbeiten seit sechs Monaten an der Live-Version von "Médée", die Besetzung ist ziemlich groß: Zwei Schlagzeuge, drei Gitarren, ein Bass und ein Synthesizer. Ich freue mich sehr darauf, diese Songs live zu präsentieren, mit den animierten Musikvideos im Hintergrund. Für mich wird es das totale DRLCT Erlebnis sein, ich hoffe, dass wir es noch ein paar Mal live spielen können.

    Anne: Als Musiker bist Du auch Teil der Band Kompressor Experiment. Möchtest Du noch ein paar weitere Unterschiede aufzählen, die Deine Arbeit für das DRLCT Projekt mit sich bringen?

    Fantin: Ich denke, dass die Songs von TKE etwas härter und definitiv progiger und komplexer sind. Die Musik von TKE besitzt auch viel mehr abstrakte Bedeutungen als die von DRLCT. Aber ja, es gibt Ähnlichkeiten, auch wenn ich versucht habe, für dieses neue Projekt etwas Anderes zu schreiben, etwas Einfacheres, Organischeres und Fließenderes. Außerdem besteht die Live-Besetzung von DRLCT aus allen aktuellen Mitgliedern von TKE und ihrem ehemaligen Schlagzeuger. Diese Jungs sind wie eine Familie und es gab keine Möglichkeit, sie nicht irgendwann in dieses Projekt einzubeziehen.

    Anne: Ist "Soloprojekt" die korrekte Definition für DRLCT? Oder würdest Du es eher als eine Art privates Nebenprojekt bezeichnen? Würdest Du sagen, KE ist die Hauptbühne und DRLCT ist eine Art von Prequel oder ist es eher andersherum?

    Fantin: Ich weiß nicht, ob "Soloprojekt" die korrekte Bezeichnung ist, aber ich hatte bei diesem Projekt die vollständige kreative Kontrolle und das ist der Grund, warum ich es auch selbst als solches bezeichne. Wir mussten mit TKE in den vergangenen Monaten eine Pause einlegen, weil DRLCT live eine Menge Arbeit ist. Aber TKE ist immer noch am Leben; im Moment schreiben wir neue Songs und wir freuen uns wirklich darauf, wieder auf Tour zu gehen und hoffentlich nächstes Jahr neues Material zu veröffentlichen.

    Anne: Gab es für Dich vor Kompressor Experiment schon andere Bands?

    Fantin: Meine erste "richtige" Band war Frozen Sword. Sie repräsentiert meine ersten Bühnenerfahrungen im Jahr 2008 und obwohl wir nicht so gut waren zu dieser Zeit und niemals zu den epischen Heavy-Metal-Legenden wurden, die wir sein wollten, wird dieses Projekt immer einen besonderen Platz in meinem Herzen einnehmen.

    Anschließend habe ich dann eine Pink Floyd Coverband namens Picture Folded gestartet, die eine Menge Spaß gebracht hat. Ein paar Jahre später habe ich mich dann Helium Echoes angeschlossen. Das war eine Grunge/Progrock-Band. Beide Projekte gibt es leider heute nicht mehr. Aktuell spiele ich auch Gitarre und Synths in einer französischsprachigen Synthpop-Band namens Méandre. Es ist ein großer Genre-Sprung zu TKE oder DRLCT, aber immer noch eine sehr interessante Art, sich der Live-Musik zu nähern, und ich liebe es, meine Post-Rock-Einflüsse hier und da einfließen zu lassen.

    Anne: Was ist das Inspiriendste, das Dir jemals passiert ist?

    Fantin: Mein Vater war Mitglied in einem Astronomieverein. Im August 1999 machten wir einen Familienausflug nach Deutschland, um die vollständige Sonnenfinsternis zu beobachten und sogar zu fotografieren. Wir befanden uns zufällig in der Nähe des Konzentrationslagers Dachau, weil es genau in der Bahn der Sonnenfinsternis lag und es viele große Getreidefelder gab, auf denen wir uns niederlassen konnten. Wir befanden uns in einem Weizenfeld und ich freute mich sehr darauf, die Sonnenfinsternis zu beobachten. Meine Mutter erklärte mir, dass dort, wo wir standen, viele unschuldige Menschen gelitten hatten und gestorben waren und dass sie davon sehr traurig und überwältigt sei. Dann begann die Sonnenfinsternis, das Licht wurde schnell dunkel und das ganze Weizenfeld begann zu rascheln und zu knacken (wohl wegen des plötzlichen Licht- und Temperaturwechsels). Als die Sonnenfinsternis vorbei war und die Nacht zum Tag wurde, raschelte und klickte der Weizen wieder. Ich weiß nicht, ob meine Mutter das als paranormales Zeichen gesehen hat, aber sie war zutiefst erschüttert. An diesem Tag zeigte sie mir einen Blick auf eine eher symbolische und mystische Dimension dieser Welt. Seitdem weiß ich, dass ich nur ein bisschen tiefer schauen muss.

    Anne: Wenn es etwas geben würde, das Du auf dieser Welt verändern könntest. Was wäre es und warum?

    Fantin: Ich möchte, dass meine Mutter wieder da ist. Es ist egoistisch und zu viel verlangt, aber ich vermisse sie so sehr und ich liebe sie unendlich. Ich kann ihren Tod einfach bis heute nicht verstehen.

    Anne: Welchen Rat würdest Du Menschen geben, die gerade ein Projekt abgeschlossen haben, das sehr wichtig und bedeutend für sie ist?

    Fantin: Halte es nicht zurück. Heule es in die Welt hinaus. Sie verdient es, es zu erfahren.

    Anne: Vielen Dank, dass Du meine Fragen beantwortet hast. Es war mir eine Freude, mit Dir zu sprechen!

    Fantin: Danke für Deine Einladung und dafür, etwas Licht auf DRLCT zu werden. Es war wirklich schön!

    Lest jetzt meine Review und erfahrt alles über Fantins Album "Médéé"!

    DRLCT – "Flow Your Tears, that Bluebird said"

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